Essen. Trotz hoher Corona-Werte können Laien-Chöre und -Orchester wieder durchstarten. Jetzt wird sich zeigen, wie sie die Pandemie-Folgen verkraften.
Die Premiere abgesagt, der Probenbetrieb eingestellt, alle Pläne auf Eis. Und schuld war dieses blöde Virus. Was die Mitglieder des Mülheimer A-Capella-Chors „Ruhrschrei!“ erlebt haben, seit die Pandemie begann, die Welt zu verändern, mussten Chöre im ganzen Land erleben. „Aufhören kam für uns aber nie infrage“, sagt Jan Götzold (43), bei „Ruhrschrei“ der tiefe Bass.
Erst hatten die Chormitglieder mit digitalen Lösungen improvisiert. Corona-Hilfen ermöglichten ihnen, technisch aufzurüsten. Sie besorgten sich die Software „Jamulus“ – und fortan standen sie mit Mikrofonen und Kopfhörern vorm Computer. „Besser als nichts“, sagt Jan Götzold, „aber das Live-Erlebnis kann es nicht ersetzen.“
Proben für das neue Programm unter freiem Himmel
Als die Corona-Lage es zuließ, trafen sich die Sänger an der frischen Luft. In der Parkanlage am Witthausbusch in Mülheim probten sie unter freiem Himmel und mit Abstand ihr neues Programm „Ich ruhrschreie jetzt!“. Spaziergänger blieben stehen. Sie genossen die Musik in jener Zeit, in der der Kulturbetrieb weitgehend stillstand.
Der Weg, den der „Ruhrschrei!“-Chor durch die Pandemie ging, war jedoch eher die Ausnahme als die Regel. „Die Masse der Chöre hat in den vergangenen zwei Jahren kein einziges Mal geprobt“, sagt Hans Frambach, der Vize-Präsident des Chorverbands NRW. „Und nur etwa ein Drittel der Chöre hat den Probenbetrieb mit digitalen Lösungen aufrechterhalten können.“
Digital-Proben hatten „eher einen sozialen Charakter“
Gründe für das Nichtgelingen der Digitalnutzung gibt es mindestens so viele wie Virusvarianten: Software-Lösungen, die synchrones Singen unmöglich machen, langsame Internetverbindungen, mangelnde technische Ausstattung, fehlende Computerkenntnisse. „Aus diesem Grund hatten Digital-Proben eher einen sozialen Charakter, der half, dass die Chormitglieder wenigstens miteinander in Kontakt bleiben konnten“, sagt Frambach.
Der in Dortmund ansässige Chorverband NRW vertritt fast 3000 Chöre mit insgesamt mehr als 200.000 Mitgliedern. Und längst, so Frambach, sei zu erkennen, dass sich bei den Sängern im Land eine „digitale Müdigkeit“ breit mache. „Dass wieder mehr Präsenz möglich ist, freut die Chöre natürlich sehr.“
„Wie viele Chöre überlebt haben, wird sich jetzt zeigen“
Zumindest die Chöre, die es noch gibt. Hat der lange Stillstand denn dazu geführt, dass Sängergruppen aufgeben mussten? „Verlässliche Zahlen gibt es noch nicht. Wie viele Chöre überlebt haben, wird sich jetzt zeigen, wenn es wieder losgeht“, antwortet Frambach. Mit Sorge blickt er allerdings auf den Nachwuchs. Kinder und Jugendliche neigten schließlich dazu, sich schnell neue Hobbys zu suchen: „Plötzlich ist Fußball interessant, dann ist das Singen passé“.
Die Mitgliederzahlen des Chorverbands seien wegen des demografischen Wandels seit Jahren rückläufig, berichtet der Vize-Präsident. Einige Chöre hätten sich also ohnehin demnächst aufgelöst. Die Pandemie habe diesen Prozess bloß beschleunigt. „Dass nun die Chor-Szene zusammenbrechen wird, kann ich nicht bestätigen“, so Frambach. „Im Gegenteil: Mitgliederbefragungen haben nicht gezeigt, dass wegen Corona besonders viele Chöre aufgegeben haben.“
Zurück in die Probenräume, Auftritte vor Publikum
Aktuell ist man beim Chorverband „optimistisch, dass alles wieder in ruhigere Fahrwasser gerät“. Zurück in die Probenräume, neue Programme einstudieren, Auftritte vor Publikum. Zugleich warnt Frambach: „Die Inzidenzen sind aktuell sehr hoch. Deswegen müssen wir mit einer gewissen Vorsicht an die Sache rangehen.“
Vorsicht hatte auch den Blasmusikverband Nordrhein-Westfalen dazu bewogen, seinen knapp 3000 Mitgliedern in der Pandemie die Einstellung des Spielbetriebs zu empfehlen. „Das war damals eine Vernunftentscheidung“, sagt Präsident Georg Arntz. Die Funktionäre wollten dafür Sorge tragen, „dass bloß nichts passiert“. Die Musiker wollten sich selbst und andere nicht gefährden. Und das Publikum wäre eh nicht gekommen, weil „das ja gefährlich sein könnte“.
Blasmusik galt plötzlich als Risiko für Leib und Leben
Gerade die Blasmusik galt in der Pandemie wegen des erhöhten Aerosolausstoß beim Spielen als Risiko für Leib und Leben. „Da kursieren viele Aussagen, die nur halb-wahr oder falsch sind“, sagt Arntz und verweist auf Internetvideos, in denen Laien mithilfe von E-Zigaretten eine mögliche Viren-Ausbreitung simulieren wollen. „Wir vertrauen da lieber auf Aussagen der Wissenschaft.“
Aktuell heißt es seitens des Verbands: „Wir musizieren wieder“. Während im Land die Maskenpflicht weitgehend gefallen ist, besteht sie bei der Blasmusik fort. Maskiert werden nämlich die Instrumente, mit sogenannten Aerosol-Adsorbern.
Im Nachwuchsbereich sind mehrere Ausbildungsjahrgänge verloren
Der Neustart ist von Sorgen begleitet. „Es wird sicher schwer, die Leute nach so einer langen Pause wieder zu aktivieren“, sagt Arntz. Im Nachwuchsbereich seien mehrere Ausbildungsjahrgänge verloren. „Wer zwei Jahre nicht proben konnte, hat sein Instrument längst in die Ecke gestellt – und holt es sehr wahrscheinlich nicht wieder hervor.“
Wenn es nun zurück auf die Bühnen geht, wird sich auch zeigen, ob die Orchester dafür fit sind. „Ein zweistündiges Konzert ist Hochleistungssport“, sagt Arntz. „Da wird dann deutlich, wer in der Corona-Zeit trainiert hat.“
Vorfreude auf die Premiere
Beim Mülheimer A-Capella-Chor „Ruhrschrei!“ sind die Sänger jedenfalls optimistisch, bald wieder vor Publikum auftreten zu können. Ihr neues Programm „Ich ruhrschreie jetzt!“ soll am 23. Oktober endlich im Essener Katakomben-Theater Premiere haben.
Oje, Ausgerechnet im Herbst. Sollte dann die Pandemie wieder außer Kontrolle sein, es wäre einfach nur noch – zum Schreien.