Dortmund. Die „Zeitenwende“ macht Katerina Poladjans Dortmunder Nelly-Sachs-Preis nur noch aktueller. Aber die Autorin musste ihre Dankesrede umschreiben.
Als Katerina Poladjan im vergangenen Jahr den Nelly-Sachs-Preis zugesprochen bekam, war von einem Krieg Russlands gegen die Ukraine genauso wenig zu ahnen wie in der Zeit, in der die 1971 in Moskau geborene, seit 1979 in Berlin lebende Schriftstellerin an ihrem jüngsten Roman „Zukunftsmusik“ schrieb. Der spielt am anderen Ende der vielbeschworenen „Zeitenwende“, am Tag, als der greise Generalsekretär der KPdSU Konstantin Tschernenko starb und ein junger Mann namens Michail Gorbatschow an seine Stelle trat. Ein paar tausend Kilometer östlich von Moskau ist das nur eine Radio-Nachricht, während die wahren Probleme in der „Kommunalka“, einer weiblichen Wohngemeinschaft auf engstem Raum, ganz anderer Natur sind, auch wenn das Private immer politisch ist und bleibt.
So ist Katerina Poladjan nun ungewollt zur gefragten Auskunftgeberin über Russland geworden: „Es gibt viele Menschen, die nicht gelernt haben, Verantwortung für ihr Denken zu übernehmen“, sagt sie und verweist auf Jahrhunderte autoritärer Regimes in Russland: „Wenn die Angst sich über Jahrzehnte einnistet, beginnen die Menschen, auch sich selbst zu misstrauen.“
In einer Reihe mit Nadime Gordimer, Milan Kundera, Christa Wolf und Margaret Atwood
Am Sonntag nun erhielt Katerina Poladjan in der Nachfolge etwa von Nadime Gordimer, Milan Kundera, Christa Wolf und Margaret Atwood den Nelly-Sachs-Preis aus der Hand von Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal im Orchesterzentrum NRW. Die Jury des Preises hatte den „sehr zurückhaltenden Stil“ Poladjans gelobt und den „Zauber“ ihrer Romane, die „mit Leerstellen und dem Ungefähren“ spielten.
In ihrer Laudatio bescheinigte Jury-Mitglied Léda Forgó der Autorin, eine Spannung zu halten und die Geheimnisse der Protagonisten langsam zu entfalten. „Unbemerkt gerät man immer tiefer in die Vergangenheit, in das Unausgesprochene der Protagonisten, zum Kern ihrer Betrübnisse und Sehnsüchte“, so Forgó. Poladjans Sprache habe dabei eine Leichtigkeit, die dennoch tief gehe. „Sie besteht nicht nur aus einer Knappheit, viel eher aus einer Poesie, die wie eine reife Marinade mit geheimnisvollen Gewürzen ihre Sätze benetzt.“ In ihren Romanen gelinge ihr mehr als eine gute Geschichte, so die Laudatorin – spielerisch würden gesellschaftliche Phänomene angetippt. „Katerina Poladjan entbindet den Heimatbegriff von geografischen Koordinaten und sagt, ihre Heimat sei da, wo ihre Liebsten sind. Nelly Sachs sagte übrigens dasselbe“, so Forgó.
Poladjans Dankesrede vom Dezember 2021 musste noch einmal umgeschrieben werden
Ihre Dankesrede, die Katerina Poladjan für den ursprünglich geplanten Termin der Preisverleihung im Dezember 2021 vorbereitet hatte, sei nun eine andere geworden, sagte die Autorin. Zu allen Zeiten hätten sich Literaten gezwungen gesehen, zum Krieg Stellung zu nehmen. Ihre Grundschullehrerin habe sie zum Schreiben ermutigt: „Wenn du einsam bist, dann schreibe, und lass die die Schönheit nicht austreiben.“ Es sei ihr eine Ehre und eine Aufgabe, so Poladjan, den Staffelstab in der Tradition der Namensgeberin und ersten Preisträgerin Nelly Sachs weiterzutragen.