Wien. Das Orchester war froh, trotz Omikron-Sorgen vor Publikum zu spielen. Der Dirigent beschwor den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Trotz Störungen.

Mit strengen Corona-Maßnahmen, Polizeischutz und einer großen Portion an musikalischer Zuversicht haben die Wiener Philharmoniker das dritte Pandemie-Jahr eingeläutet. Unter der zurückhaltenden Leitung von Daniel Barenboim ließ das Orchester Korken knallen, sang von nächtlichen Vergnügungen und beschwor in zwei Stücken den mythologischen Vogel Phönix als Symbol des Neubeginns.

Daniel Barenboim: „Es ist eine Katastrophe, die uns auseinanderdividieren will“

In dieser schweren Zeit sei das Konzert und das Zusammenspiel des Orchesters ein Symbol für den Zusammenhalt, den die Welt jetzt brauche, sagte Barenboim dem Publikum. Covid-19 sei nicht nur eine medizinische, sondern auch eine menschliche Katastrophe. „Es ist eine Katastrophe, die uns auseinanderdividieren will.“

Aufruf zur Störaktion – 1000 Zuschauer statt 1700

In den Tagen vor dem Konzert hatten Gegner der Corona-Maßnahmen laut Wiener Polizei zu einer Störaktion aufgerufen. Auf dem Vorplatz des Musikvereins fanden sich am Samstag einige Dutzend Menschen mit Trommeln und Lautsprechern ein. Die Polizei verhinderte jedoch die Demonstration mit Absperrungen und anderen Sicherungsmaßnahmen.

Die Musikerinnen und Musiker hatten dem Auftritt vor Publikum entgegengefiebert, denn im Vorjahr musste der Walzer- und Polkareigen wegen der Corona-Pandemie vor leeren Rängen stattfinden. Aus Sorge vor der Omikron-Variante wurde die Zahl der Zuschauer allerdings dieses Mal kurzfristig von 1700 auf 1000 reduziert. Die Gäste mussten eine vollständige Grundimmunisierung und einen negativen PCR-Test vorweisen sowie FFP2-Masken tragen. Den vielen Kartenbesitzern, die deshalb zu Hause bleiben mussten, wurden Plätze für den 1. Januar 2023 reserviert.

Kanzler Nehammer blieb freiwillig fern, Richard „Lugi“ Lugner war im Saal

Die Regierung hatte kurz vor Weihnachten neue Corona-Regeln für Veranstaltungen angekündigt. Große Theater und Opern mussten kurzfristig entscheiden, ob sie mehr als 1000 Besucher nur mit Auffrischungsimpfungen einlassen - oder ob sie die Publikumsgröße verringern und so wie beim Neujahrskonzert 2G plus anwenden. Der Wiener Staatsoper machte das Virus trotz strengster Vorsichtsmaßnahmen zu Jahresbeginn einen Strich durch die Rechnung. Das Haus gab am Samstag bekannt, dass wegen einiger Omikron-Fälle im Ensemble alle Vorstellungen bis inklusive Donnerstag ausfallen.

Österreichs Kanzler Karl Nehammer blieb dem Neujahrskonzert freiwillig fern. Angesichts der bevorstehenden Omikron-Welle wäre ein Besuch das „falsche Signal“, schrieb er auf Facebook. Die Staatsspitze war durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen vertreten. Auch der Wiener Society-Löwe und Unternehmer Richard Lugner ließ sich die Veranstaltung nicht entgehen.

Jubel für „Sphärenklänge“ von Josef Strauß und Ziehrers Walzer „Nachtschwärmer“

Die Philharmoniker bewahren bei ihren Auftritten oft einen stoischen Ausdruck selbst bei Neujahrskonzerten. Am Samstag spielten viele der Musiker jedoch mit einem Lächeln im Gesicht. Die jahrzehntelange Verbundenheit des Orchesters mit dem Pianisten und Dirigenten Barenboim war spürbar. Der 79-jährige Maestro achtete auf einen klaren, leichten Klang und legte den volksmusikalischen Hintergrund der Walzer und Polkas frei. Dabei arbeitete der Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden mit minimalen Gesten und sorgte dafür, dass nie zu viel Überschwang aufkam.

Besonders viel Jubel brandete nach dem spätromantisch-symphonischen Walzer „Sphärenklänge“ von Josef Strauß (1827-70) auf - eines von Barenboims Lieblingsstücken. Das Publikum war auch von den mehrstimmigen Sing- und Pfeifkünsten begeistert, die das Orchester in Carl Michael Ziehrers (1843-1922) Walzer „Nachtschwärmer“ zur Schau stellte. Die Textzeilen „Woll’n wir nach Hause geh’n, oder wir bleib’n noch hier, bist du dafür?“ wiesen angesichts der derzeitigen frühen Corona-Sperrstunde in Österreich hoffnungsvoll in post-pandemische Zeiten.

Erfrischend modernde Choreografie von Martin Schläpfer

Einen Schritt in die Gegenwart machte die Tanzeinlage des Konzerts, das für ein Millionenpublikum in 92 Länder übertragen wurde. Der Ballettchef der Wiener Staatsoper, der ehemalige Chef des Rheinoper-Balletts Martin Schläpfer, schuf eine erfrischend moderne Choreographie mit kraftvollen Frauen-Solos zum Walzer „Tausend und eine Nacht“ von Johann Strauß (1828-99). Zur Komposition „Nymphen“ von Johanns Bruder Josef tänzelten danach die Lipizzanerhengste der Spanischen Hofreitschule in Wien. Diese zarte Polka sei den Tieren viel besser gelegen als der kämpferische „Persische Marsch“, den man auch in Erwägung gezogen habe, erzählte Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer vor dem Konzert.

Nach Barenboim, der das Neujahrskonzert insgesamt schon drei Mal dirigiert hat, wird am 1. Januar 2023 Franz Welser-Möst die traditionelle Veranstaltung leiten.