Wien. Martin Schläpfers Start als Chef des Wiener Staatsballett erlebte viele Hürden. Jetzt brachte er dort seine erste Uraufführung heraus.
Als hätte er seherische Fähigkeiten: Martin Schläpfer, ehemaliger Chef des Ballett am Rhein, kombiniert seine erste Uraufführung fürs Wiener Staatsballett mit Hans van Manens Videoballett „Live“ – eine corona-kompatible Wahl. Und eine Wiederentdeckung, denn das tanzhistorische Werk von 1979, erstmals außerhalb von Amsterdam zu erleben, erweist sich als taufrischer, auch technisch raffinierter Beziehungskrimi als Vexierspiel.
Durch eine Handkamera erlebt man eine Tänzerin, die die Bühne verlässt, ins Foyer entschwindet und da einen danseur noble trifft. Eine Rückblende offenbart ihre komplizierte Verbindung. Die Frau enteilt verwirrt in die Nacht. Ein Meisterwerk, auf das mit Schläpfers Arbeit „4“ zu Gustav Mahlers 4. Sinfonie gleich das nächste folgt. Zu sehen ist das Programm nach der gestreamten Premiere ohne Publikum aus der Wiener Staatsoper nur online bei arte concert (bis März 2021).
Martin Schläpfer führt Wiens Ballett trotz Corona zu einem großen Tanzabend
Ein Wunder, dass es zur Bühne fand: Lockdown, Kurzarbeit, zehn Tage Quarantäne für die ganze Kompanie, 30 Corona-Fälle, verschobene Premiere – die Nerven lagen blank. Schon die Eingangsszene zieht in den Bann. Eine dunkel gekleidete, kleine Frau (Yuko Kato) bewegt sich wie unter Schmerzen zur Rampe. Sie strauchelt, fällt, richtet sich traurig auf und zeigt mit theatralischer Geste in das Rund der leeren Ränge. Entsetzt hält sie die Hände vor den geöffneten Mund. Welch grandioser Prolog zu einem Welttheater, das unsere Zeit in Szene setzt!
Dafür bietet Schläpfer alles auf: die Ensembles von Staats- und Volksoper mit mehr als 100 Mitgliedern sowie das Orchester der Wiener Staatsoper. Am Pult: Axel Kober, importierter Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein, der Mahler fein ausdifferenziert spielen lässt. Vom ersten Pas de deux an konterkariert der neue Chefchoreograf die Erwartungen, indem er mit angezogenen Füßen tanzen lässt. Mit ihm zieht das zeitgenössische Ballett in das ehrwürdige Haus ein. Er zeigt flinke Fuß- und Beinarbeit, ziselierten Spitzentanz für kleine, große und die Bühne füllende Gruppen in originellen, eleganten Kostümen.
Nicht allein Schläpfer ist von der Rheinoper in Wien vertreten; Axel Kober dirigiert
Die Choreografie lässt sich von der Musik mal tragen, mal bleibt sie von ihren Stimmungsschwankungen unbeeindruckt. Nur ein gedehntes Bein nimmt die langen Töne, ein battement die vibrierenden Klänge auf. Das Ensemble verfügt über starke Tänzer-Persönlichkeiten, für die der Schweizer sich fantastische Soli einfallen lässt – ein Fest der Virtuosität. Es gibt auch Humor mit Rangeleien, koboldhaften oder artistische Figuren. Es gibt Tanztheater-Elemente, so wenn die beiden Leitfiguren Yuko Kato und Rebecca Horner eine Trennlinie aus Spaghetti als Pandemie-Schutzwall legen. Und es gibt Mini-Dramen mit menschlichen oder brutalen Gesten. Auch das: Frauen dürfen – im klassischen Ballett unüblich – sehr weiblich sein, Männer männlich. Überhaupt ist das Stück (auch homo-) erotisch aufgeladen.
Gegen Ende, wenn Schläpfer Mahlers sinfonisches Paradies als Ironie mit Verzweifelten interpretiert, wird es rätselhaft. Um dem Geheimnis dieser Arbeit auf die Spur zu kommen, müsste man es erneut sehen – und aus der Nähe. Es gibt, natürlich, Ungeschliffenes und ungünstige Kameraperspektiven. Aber sich damit aufzuhalten, wäre schlicht unfair.