Wuppertal. Das Wuppertaler Museum von der Heydt vereint die „Brücke“ und den „Blauen Reiter“ zu einer Gegenüberstellung: Erlesene Werke aus drei Sammlungen
Wassily Kandinsky zählte geringschätzig „9 + ½ Akte mit und ohne Schamhaare, 5 Badende und 2 Circusbilder“, als sich die Maler der „Brücke“ darum bewarben, auch in den Almanach „Der Blaue Reiter“ aufgenommen zu werden. So war das: Selbst wenn Kandinsky gerade mit Gabriele Münter in Dresden war, als sich dort am 7. Juni 1905 die „Brücke“ gründete, lagen Welten zwischen den beiden Künstlergruppen, die von der Nachwelt gemeinsam als „Expressionismus“ apostrophiert wurden.
Heraus aus der Enge des Wilhelminismus wollten beide – doch die Dresdner „Brücke“-Maler Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff, Otto Mueller oder Max Pechstein wollten zurück zur Natur, wollten das Leben selbst spüren und eine neue Unmittelbarkeit, Unverstelltheit. Die Münchner Gruppe mit Franz Marc und Münter, Marianne von Werefkin, Alexej von Jawlensky und eben Kandinsky vorneweg suchten die Vergeistigung, das Höhere, das jenseits des rein Materiellen, der bloßen Natur lag. „Der Blaue Reiter“ setzte die Metaphysik der Romantik mit anderen Mitteln fort, die „Brücke“ suchte ganz reale Verbindungen im Diesseits.
Gegensätze und Gemeinsamkeiten aus drei Sammlungen
Im Wuppertaler Museum Von der Heydt lassen sich jetzt in einer großen Sonderschau die Gegensätze und Gemeinsamkeiten der beiden großen Expressionisten-Gruppen en gros und en detail betrachten. Es ist die Einstands-Ausstellung von Roland Mönig, der nach Lehrjahren im Klever Museum Kurhaus und etlichen Gesellenstücken am Saarland-Museum seit April 2020 das Von der Heydt leitet. Die Ausstellung profitiert nicht nur von der satten Ausstattung des Wuppertaler Hauses mit expressionistischen Gemälden und Grafik – sie beruht auf einer Zusammenarbeit mit dem kaum minder üppigen Fundus des Buchheim-Museums der Phantasie in Bernried am Starnberger See und den Kunstsammlungen Chemnitz mit ihrer Gunzenhauser-Kollektion.
Schon am Anfang wartet ein sehr vergeistigter „Kandinsky am Tisch“, wie seine Lebensgefährtin Gabriele Münter ihn 1911 in Öl auf Malpappe skizzierte – und daneben Erich Heckels genüssliche Feier des sinnlichen Lebens in Gestalt des „Schlafenden Pechstein“, der flammt vor lauter Rot, der in einen Liegestuhl in grüner Natur dahingegossen ist, mit nackten Füßen die Freiheit und das Geerdetsein zugleich genießend, nicht nur farblich eins mit sich und seinem Äußeren. Pechstein besteht aus Flächen und Umrissen, Kandinsky aus Schimmern und Schemen.
Ernst Ludwig Kirchners Nackte, Franz Marcs „Akt mit Katze“
Oder die Akte: Hier Kirchners Nackte im Atelier von 1909, in dem Erotik und Verlangen bis in den Hintergrund dringen, dort Franz Marcs nicht weniger farbsatter, ein Jahr jüngerer „Akt mit Katze“, der mit ganz ähnlichen grünen Körper-Konturen einen ganz anderen Effekt erzielt – ihm geht es um intime Nähe, um Fürsorglichkeit und Zärtlichkeit und die Unschuld des Moments. Andererseits: die „Artisten“ auf Marianne von Werefkins Gouache-Skizze siedeln sehr dicht an vielen der Badenden von Otto Mueller und Kirchner.
Selbstverständlich bietet die Ausstellung mit 90 Gemälden und 70 Arbeiten auf Papier auch Gelegenheit zum Schwelgen in Farben und Formen, mit knalligen und doch so subtilen Porträts von Jawlensky, mit blauen Fohlen von Macke oder seinem glosenden Fingerhut in einem urwaldähnlichen Garten, den Meereslandschaften von Schmidt-Rottluff oder Kirchners immer wieder erzählstarken Berliner Bordsteinschwalben.
Expressionismus unter den Nazis, in der DDR und der Bundesrepublik
Und Emil Nolde, der ja nur kurz zur „Brücke“ dazugehörte, figuriert hier einmal mehr als ein Ausnahme-Maler, der seine Bilder auf faszinierende Weise brennen und flimmern und flammend leuchten lassen konnte und seine Motive aus dem Impressionismus heraus führte.
Die Wuppertaler Schau führt Bekanntes sinnfällig vor Augen und zieht den Expressionismus mit seinen abstrakten und informellen Weiterentwicklungen im Schlusskapitel plausibel bis in die Nachkriegszeit. Den größten Erkenntniszuwachs bieten dabei zwei Aufsätze im sehr gelungenen Ausstellungs-Katalog über die ambivalente Rezeption des Expressionismus im Nationalsozialismus sowie in der DDR und der Bundesrepublik. Denn im realsozialistischen Osten war der Expressionismus lange Zeit suspekt, galt als dekadent, bürgerlich, irrational und gar, mit Georg Lukács als Vorreiter des Faschismus. Ab Mitte der 80er-Jahre aber galt er wieder als künstlerische Avantgarde und Fortschritts-Ausdruck. Im Westen war der Expressionismus schon mit der ersten „Documenta“ von 1955 rehabilitiert; die „Wiedergutmachung“ an der von den Nazis als „entartet“ diffamierten Kunst fand ihren Höhepunkt mit dem Einzug von Expressionisten wie Kirchner im Bundeskanzleramt unter der Ägide von Helmut Schmidt. Dessen Lieblingsmaler Emil Nolde wurde dort sogar eine ganze Ausstellung gewidmet.
„Brücke und Blauer Reiter“. Museum von der Heydt, Turmhof 8, 42103 Wuppertal. Bis 27. Februar 2022. Geöffnet: di-so 11-18 Uhr; do bis 20 Uhr. Neujahr: 14-18 Uhr.
Eintritt: 12 Euro, erm. 10 Euro; Kinder bis 17: 2 Euro; Familien: 24 Euro. Katalog (Wienand Verlag): 29 Euro. Führungen: 4 Euro plus Eintritt. Audioguide vorhanden. Info: www.von-der-heydt-museum.de