Dave Eggers’ neuer Roman geht in Alaska „Bis an die Grenze“ und zeichnet das Porträt einer Mutter als nicht mehr ganz junge Frau.
Nur weg, alles hinter sich lassen, aufbrechen! Aber – die Kinder? Josie schnappt sich den achtjährigen Paul und seine Schwester Ana, gerade mal fünf, und fährt mit ihnen wochenlang im Wohnmobil durch Alaska, immer tiefer in die Wildnis hinein. Weil sie sowieso gerade wirtschaftlich ruiniert ist und innerlich orientierungslos. Weil sie irrealerweise Angst davor hat, dass der jahrelang unsichtbare Kindsvater plötzlich Ansprüche geltend machen könnte. Und weil sie die reale Gefahr der Waldbrände drastisch unterschätzt. So rollt Dave Eggers’ Roman tatsächlich „Bis an die Grenze“, mit den schockstarren Lesern im Gepäck.
Der mehrfach preisgekrönte US-Schriftsteller besinnt sich mit diesem Drama auf seine Anfänge. Zuletzt hatte sich Eggers als gesellschaftlicher Seismograf hervorgetan: geißelte soziale Netzwerke und die Allmacht der Silicon-Valley-Industrie („The Circle“), begrub neoliberalen Größenwahn in der saudischen Wüste (jüngst verfilmt: „Ein Hologramm für den König“) und zeigte die Verheerungen ausländerfeindlicher Vorurteile in Zeiten des Wirbelsturms („Zeitoun“). Und nun also eine Geschichte von Fürsorge und Versagensängsten, die an Eggers’ Debüt erinnert: „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ erzählte, wie er selbst sich nach dem Krebstod der Eltern um seinen viel jüngeren Bruder kümmern musste.
Kaffee und Kopfschmerz
Auch Josie scheint mit den beiden Kindern heillos überfordert. Dabei ist sie gut ausgebildet, intelligent, leitet eine Zahnarztpraxis. In Rückblenden blättert Eggers ein Mütterleben auf, das zwischen Pflicht und Ausgelassenheit und Verzweiflung so zerrissen scheint wie zwischen Chardonnay, Kaffee und Kopfschmerz. Beinahe klischeehaft katastrophal verlief die Beziehung zum verdauungsgestörten Kindsvater, typisch amerikanisch mutet die Schadenersatzklage einer Krebspatientin an, die Josie um die Praxis bringt. Der Road-Trip führt sie zudem an die Wurzeln allen Übels, in ihre Kindheit.
Aus Alaska kennen wir die großartigen, verstörenden Werke David Vanns, der die menschliche Natur im Angesicht der Wildnis auszuloten versteht. An Vanns Dramatik reicht Eggers nicht heran, die Landschaft gerät ihm allzu oft zur reinen Kulisse, seine Annäherung an die „Survival Literature“ des nördlichen Nordamerikas (zu denen auch Margaret Atwood zählt) ist etwa so wild und bedrohlich, wie ein Löwe hinter Zoogittern wild und bedrohlich scheint. Erstaunlich aber ist, wie Eggers sich seiner Protagonistin Josie annähert. Josies Gefühlsschwankungen, ihre Beeinflussbarkeit, ihr drängender Wunsch nach Freiheit bei beinahe schmerzlich heftiger Kindsliebe zeigt das ganze Drama der Mutter als (nicht mehr ganz junge) Frau.
Damit ist der Roman vielleicht doch ein Spiegel der Gesellschaft, nicht nur in seinen skurrilen Begegnungen mit kontaktfreudigen Aussteigern, einsamen Campingplatzbesitzern und kernigen Truckern. In Josie wird die Sehnsucht nach dem vermeintlich einfachen, naturverbunden Leben verstärkt durch die Kinder: Wie sollen sie aufwachsen, wie werden sie glücklich? Fern von Leistungsdruck am besten! Nur merkt Josie nicht, dass sie sich damit selbst damit unter Druck setzt: „Gemeinsam im Fichtenwald bei schwindendem Licht, während die Kinder durch langes Gras laufen (...) solche Augenblicke waren das Ziel. Josie hatte das Gefühl, nur ganz kurz, dass sie sterben könnte, nachdem ihr so ein Tag gelungen war.“
Am Ende wird Josie erkennen, was sie schon die ganze Zeit von ihren Kindern hätte lernen können: Dass „gelungene“ Tage, ein gelungenes Leben sich nicht planen lassen und nicht immer Sonne brauchen – manchmal tut es auch ein blitzeschreiendes Unwetter.
Dave Eggers: Bis an die Grenze. Kiepenheuer & Witsch, 496 S., 23 €