Essen. Edgar Selges Vater war Knastdirektor, ein verhinderter Klaiver-Star und er missbrauchte ihn: „Hast du uns endlich gefunden“, ein Erinnerungsbuch.
An die Ungeheuerlichkeit, dass manche KZ-Aufseher es liebten, nach dem Dienst Mozart und Bach zu hören, hat man sich im Laufe der Zeit vielleicht gewöhnt. Dass ganz normale Nazis aber auch noch sexuellen Missbrauch mit ihren eigenen Kindern getrieben haben, das lässt denn doch den Atem stocken: Der große Charakterdarsteller Edgar Selge, 1948 zur Welt gekommen in einer Lungenklinik des Sauerlands, aufgewachsen als Sohn eines Gefängnisdirektors im westfälischen Herford, erzählt in seinen Kindheitserinnerungen „Hast du uns endlich gefunden“ von dieser Ungeheuerlichkeit. Er macht es kurz, er skizziert die Folgen, aber viel länger beschreibt er die Prügel-Orgien seines Vaters. Und wie sehr er ihn geliebt hat.
Gefängnisdirektor für Nazi-Generäle wie Kesselring oder von Manstein
Es ist – wie Monika Helfers Roman „Vati“ – und doch ganz anders, ein Roman über einen Weltkriegssoldaten, der sich nach dem Krieg der jungen Demokratie anpasst – und sein Heil im inbrünstigen, quasireligiösen Zelebrieren von Kultur sucht. Vater Selge wurde Jurist statt Pianist und hält doch am Traum vom Musikerleben fest, übt verbissen für Konzerte mit Geigen-Profis vor 400 jugendlichen Strafgefangenen, die abends dann im Familien- und Freundeskreis wiederholt werden. Er war aber auch kurz nach dem Krieg vorübergehend Direktor des Gefängnisses in Werl, wo lauter Nazi-Generäle wie Kesselring oder von Manstein eine exklusive Vorzugsbehandlung genossen, bevor sie trotz Todesurteilen oder lebenslanger Haft ihrer baldigen Entlassung entgegensahen.
In der Pandemie geschrieben
Der kleine Edgar entwickelt sich in den beengten, streng geregelten, mitunter aber auch liebevollen Verhältnissen des Elternhauses in Herford zum notorischen Lügner und Dieb, stiehlt Haushaltsgeld und erleichtert die Klassenkasse, um ins Kino gehen zu können. Und Bücher, die beim Durchblättern in der Buchhandlung offensichtlich von ihm handeln (wie Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“) holt er später ab, eingeschlagen in eine Zeitung und ohne zu bezahlen. Und fragt seinen Vater, ob er von seinem Vater geschlagen worden ist – wohl wissend darum, dass es nie geschah, aus dem Wunsch heraus, den Prügel-Vater zu Besinnung zu bringen. Dass der auf dem Klo, im Garten und überall, wo er sich allein glaubt, pausenlos vor sich hinschimpft, deutet auf die unterdrückte Aggression in der Nachkriegszeit, die ja kein individuelles Symptom war.
All dies muss Selge lange mit sich herumgetragen haben, und erst der gesellschaftliche Stillstand machte offenbar sagbar, was dieses Individuum für nicht mitteilbar gehalten hat: „„Die Pandemie hält die Zeit an, damit ich ausspreche, was mir so schwer auf die Zunge will.“ Ohne Angst vor Widersprüchen und Entblößungen.
Edgar Selge spielte stundenlang Schlachten des Zweiten Weltkriegs nach
So spielt der Junge, der Edgar Selge war, stundenlang Szenen, ja Schlachten des Zweiten Weltkriegs im heimischen Garten unterm Birnbaum nach, guckt Löcher in die Luft, führt Selbstgespräche. Ein Träumer durch und durch. Und so anders als die Erwachsenen: „Der Krieg ist die Zeit, wo alles passiert ist. Alle zehren vom Krieg. Alle beziehen ihre Kraft aus dieser Zeit. Auch wenn sie sich davon abstoßen.“ Aber er setzt eben oft auch seinen Willen durch, sorgt für die Erfüllung seiner Bedürfnisse.
In seltsamem Gegensatz dazu stehen Sätze wie „Mein Gefängnis trage ich immer mit mir herum. (...) Ich habe keinen Mut, andere zu enttäuschen. Wenn ich das könnte, wäre ich frei.“ Selges Heranwachsen wirkt jedenfalls wie ein einziges, kontinuierliches Frei-Werden, Ich-Werden. Man begreift mit diesen Erinnerungen auch, wie und warum Edgar Selge Schauspieler geworden ist – und trifft darin mal um mal auf schöne Sätze wie „Je genauer ich bin, desto fremder werde ich mir.“ Oder: „Das Abenteuer der Liebe ist Sehnsucht, nicht Erfüllung“. Und erst im traurigen Epilog wird deutlich, warum es „es der Zerfall ist, der uns zusammenhält. Der alles zusammenhält.“.
Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden. Rowohlt, 304 S., 24 €. Selge spricht über sein Buch am Montag, 1. November, in der Wilhelmshöhe in Menden (19 Uhr, Karten unter www.buch-daub.de o. Tel 02373 3065
„habe ich begriffen, dass