Dortmund. Dortmunds Schauspiel mischt erfolgreich Virginia Woolf mit der Theater-Apokalyptikerin Sarah Kane: „Mrs. Dalloway Prinzip / 4.48 Psychose“
Der quälend lange Corona-Lockdown hat bei nicht wenigen Theatern zu einem Inszenierungs-Stau geführt. So auch am Schauspiel Dortmund: Hier werden zum Saisonstart gerade mehrere, längst geprobte Aufführungen in den sogenannten „Throwback Weeks“ gebündelt serviert. Auch der Doppelabend „Das Mrs. Dalloway Prinzip / 4.48 Psychose“ sollte ursprünglich bereits vor einem Jahr gezeigt werden: Dass man ihn jetzt endlich sehen darf, ist ein Glück, denn die betont ruhige, fast melancholische Verschränkung zweier grundverschiedener Vorlagen verblüfft und begeistert.
75 Jahre trennen Virginia Woolfs Roman „Mrs. Dalloway“ von „4.48 Psychose“, dem letzten Theaterstück von Sarah Kane. Mal abgesehen davon, dass beide Autorinnen freiwillig aus dem Leben schieden, eint beide Texte augenscheinlich nicht viel. In ihrem großen, präzisen Sittengemälde erzählt Woolf von einer Welt des schönen Scheins, in der nur zählt, was schicklich ist. Sarah Kane hingegen schreibt einen wilden Gesang aus Zorn und unheilbarem Schmerz, glasklar und messerscharf formuliert. Wenn die gewohnt souveräne Bettina Engelhardt im Kane-Teil der bitteren Einsamkeit ihrer Figur freien Lauf lässt („Keiner berührt mich, keiner traut sich an mich heran“), dann könnte sie das kurz zuvor schon ganz ähnlich in ihrer Rolle als Mrs. Dalloway gesagt haben.
Linda Elsner im Kampf mit Zettelbergen
Regisseurin Selen Kara geht zunächst nüchtern ans Werk: Auf einem großen, schneeweißen Tableau (Bühne: Lydia Merkel) stellt sie die Figuren aus Woolfs Roman wie auf einem Schachbrett aus. Sie bricht die Handlung auf sieben Kernfiguren herunter und installiert daneben eine Erzählerin (Linda Elsner), die beredt durch die Handlung führt und bisweilen mit ihren Zettelbergen hadert, als wäre sie die Autorin persönlich.
Es gibt tatsächlich feste Rollenzuweisungen, was im modernen Regietheater eine Seltenheit geworden ist. Hier begegnet man der wohlsituierten Mrs. Dalloway, die beim morgendlichen Blumenkauf ihrer Jugendliebe Peter (Raphael Westermeier) begegnet, während der schwer traumatisierte Septimus Warren Smith (stark: Christopher Heisler) langsam vor die Hunde geht. Was das „Prinzip“ nun sein mag, um das Selen Kara den Titel erweiterte, bleibt unklar. Gemeint ist womöglich die Routine, die an Mrs. Dalloway alle Widrigkeiten des Daseins abprallen lässt wie an der scheidenden Kanzlerin.
Sara Kanes Seelenqualen
Kunstvoll gelingt Kara der zweite Teil nach der Pause: „4.48 Psychose“ ist ein Werk, das staunen und erschaudern lässt. Der berührende, packende Text, den die Regisseurin auf eine große Drehbühne bringt, gleicht fast einem kammermusikalischen Requiem. Dabei sind es dieselben Schauspieler wie zuvor, die Sarah Kanes Seelenqualen getragen sezieren, begleitet werden sie von düsteren Klängen von Torsten Kindermann. In einem beachtlichen Stimmenballett reden sie miteinander und aneinander vorbei, entblößen sich und ihre unerfüllten Wünsche.
Großer Jubel.
Dauer: ca. 2 Stunden 15 Minuten mit Pause. Termine: 13., 14. Oktober. Karten: Tel. 0231 / 50 27 222.