Washington. In „The Father“ spielt Anthony Hopkins auf bezwingende Weise einen demenzkranken Mann. Den Oscar bekam er für diese Glanzleistung zu Recht.
Wenn Sie auch deshalb gerne ins Kino gehen, weil man sich nirgends sonst für zwei Stunden und eine Tüte Popcorn in Schicksale entführen lassen kann, von denen jeder wohl sehnlichst hofft, sie um Gottes Willen nie wirklich selbst erleben zu müssen, dann sind Sie bei „The Father” aus mindestens zwei Gründen goldrichtig aufgehoben.
Das Regie-Gesellenstück des französischen Autors Florian Zeller, der mit dem Werk sein eigenes Kammerspiel-Theaterstück auf die große Leinwand gebracht hat, verhandelt das allmähliche Sich-selbst-Verlieren seines dementen Protagonisten Anthony. Und zwar so genial aus der labyrinthisch verwinkelten Perspektive des Betroffenen, dass man am Ende, wenn sich der alte Mann an der Schulter einer Altenheim-Schwester unter Tränen seine „Mommy” zurückwünscht, als Betrachter selber ganz meschugge ist angesichts der vielen Dialog- und Perspektivwechsel. Wer bin ich? Wo bin ich? Wer ist denn das? Mit so viel Verunsicherung über die Wahrhaftigkeit der eigenen Wahrnehmung hat man selten einen Kinosaal verlassen.
Zur Person: Florian Zeller
Regie-Debütant Florian Zeller ist 1979 in Paris geboren. Bekannt wurde er als Autor von Romanen und Theaterstücken. 2004 gelang ihm mit seinem ersten Drama „Der Andere“ ein Überraschungserfolg.
2011 wurde sein Boulevardstück „Die Wahrheit“ am Hamburger St. Pauli Theater unter anderem mit Herbert Knaup gespielt. „Der Vater“, das er nun als Kinofilm inszeniert hat, entstand als Stück 2012.
Zart und boshaft: Anthony Hopkins brilliert in „The Father“
Zeller gelingt, was so noch kaum jemandem im Film gelungen ist. Er schließt den Gesunden die hermetisch abgeriegelte Welt eines Menschen auf, der sich selbst vergisst und sich nicht mehr über den Weg traut, weil ihm der Kopf fortwährend üble Streiche spielt. Der zweite Grund: Einer der großen Seelenausleuchter unserer Zeit spielt mit seinen 83 Jahren die Hauptperson so nuancenreich charmant und verzweifelt, so zart und boshaft, so verletzlich und widerborstig, dass der diesjährige „Oscar” für die beste männliche Hauptrolle doppelt und dreifach berechtigt war: Hut ab, Anthony Hopkins, dessen Rollen-Ego das Bild vom entwurzelten Menschen greifbar macht, wie es besser kaum geht: „Ich habe das Gefühl, dass ich alle meine Blätter verliere.”
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Aber auch Hütchen ab für Olivia Colman, die das ganze Leid der Angehörigen von Demenzkranken mit einem millimeterkleinen Zucken rund um ihre Mundwinkel aufführen kann. Mit ihr fängt alles an. Sie ist Anne, die Tochter des ehemaligen Ingenieurs, der in London in bester Lage ganz allein eine gediegen schöne Wohnung von gefühlten 250 Quadratmetern bewohnt, sich selbst vorgaukelt, geistig noch auf der Höhe zu sein, obwohl er täglich spürt, dass die Welt mit ihm nach Gusto Karussell fährt.
Mit Anthony ist es so wechselhaft wie mit Alfred, der an Parkinson und Demenz leidenden Hauptfigur in Jonathan Franzens Bestseller „Die Korrekturen”: wie ein „beschädigtes Transistorradio, das nach heftigem Schütteln entweder wieder laut und deutlich funktionierte oder nichts als statisches Rauschen ausspuckte”.
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Szenen zwischen ehrbarer Komik und latentem Horror
Weil Anne sich im reifen Alter nach Paris verliebt hat, muss eine neue Pflegerin her für den siechen Papa, um dessen Halluzinationen und Paranoia in Schach zu halten. Was natürlich mit den bekannten Gassenhauern abgelehnt wird, die viele Söhne und Töchter schon von ihren alten Vätern und Müttern zu hören gekriegt haben. „Ich brauche niemanden. Ich komme sehr gut zurecht.” Kommt er nicht. Gar nicht.
Anthony verbaselt nicht nur regelmäßig seine Armbanduhr. Dritte, vor allem Hilfskräfte, werden dann fix des Diebstahls verdächtigt. Dabei hat der Greis das Ding nur wieder in einem Geheimversteck unterm Spülstein deponiert. Mit der Denunzierung konfrontiert, wird Anthony wunderlich, streitet alles ab und tut so, als wisse er von nichts. In diesen Szenen liegt viel ehrbare Komik, die aber schon im nächsten Moment in latenten Horror changiert, wenn Anthony plötzlich einen „fremden Mann” in seinem Wohnzimmer identifiziert, der vorgibt, sein Schwiegersohn zu sein, obwohl Tochter Anne doch der Liebe wegen nach Paris ... Sie wissen schon.
Schon im „Schweigen der Lämmer“ gründete Hopkins Abgründe aus
Noch gruseliger wird es, wenn eine zum Vorstellen angetretene Pflegekraft plötzlich das Gesicht seiner nach einem Unfall verstorbenen Lieblingstochter trägt. Das hier mit der Frontal-Kamera eingefangene Entgleiten elementarer Erinnerungen tut beim Zuschauen richtig weh. Noch dazu, weil Meister Hopkins, der schon vor 30 Jahren als Dr. Hannibal Lecter im „Schweigen der Lämmer” Abgründe auslotete, diese Momente mit absoluter Reduktion spielt und damit zutiefst mitmenschliche Anteilnahme auslöst. Wer „Den Vater” gesehen hat, wird besser verstehen, wie unendlich hart es ist, wenn sich eine geliebte Person nach und nach in einen Fremden verwandelt.