Essen. Neu im Kino: Dominik Grafs eigenwillige, aber großartige Verfilmung von Erich Kästners „Fabian“ schält den Kern des Romans heraus.

Literaturverfilmungen mit dem Zusatz „frei nach...“ lassen oft arges Schindluder befürchten – aber im Falle von Dominik Grafs „Fabian“ ist das Gegenteil der Fall. Ja, Graf geht recht frei mit der Chronologie des Buchs um; so findet sich etwa die Einstiegsszene des Romans erst fast am Ende des Drei-Stunden-Films. Aber: Sie ist hier am richtigen Platz. Graf schält aus dem satirisch-bösen Panorama, das ein ausuferndes Panoptikum des Lotterlebens in der späten Weimarer Republik bietet, eine unendlich romantische, unendlich traurige Liebesgeschichte heraus. Vielleicht nicht das, was man von einem ambitionierten, ja politischen Filmemacher wie Graf erwarten würde – aber unbedingt gelungen.

Der Erstausgaben-Titel „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ war vom Verlag erzwungen. Über Kästners Manuskript, das er im Juli 1931 an den Verlag schickte, stand erst „Sodom und Gomorrha“. Dann probierte es Kästner, voller Selbstvertrauen durch den Erfolg seines Kinderbuchs „Emil und die Detektive“, das sogleich verfilmt werden sollte, mit dem Titel „Saustall“, dann „Saustall ohne Herkules“. Dominik Grafs Verfilmung malt die erotischen Freizügigkeiten gar nicht so üppig aus, auch wenn es in Männer- und Frauenbordellen hoch hergeht, wenn Transvestiten und Sadisten ihren Neigungen nachgehen – die wirklichen Schweinereien, das ist ja die Perspektive des (am Ende gebrochenen) Moralisten Dr. Jakob Fabian, passieren ganz woanders. Im Arbeitsleben, wo Menschen um die Früchte und den Lohn ihrer Arbeit betrogen werden, im Filmgeschäft, wo es schon bei Kästner mit dem Produzenten Markart (hinreißend schmierig und widerlich: Aljoscha Stadelmann) einen Urgroßvater von Harvey Weinstein gibt, der dem Nachfahren bis aufs Haar gleicht.

Tom Schilling sieht mal wieder zu jung aus, Saskia Rosendahl ist Cornelia

Überhaupt, die Schauspieler: Tom Schilling, eigentlich mal wieder etwas zu jung aussehend für die Rolle, ist aber weniger der Moralist als ein Mensch, der seine Ideale mit einer gewissen Großzügigkeit lebt, ohne von ihnen zu lassen: „Ich bin ein Melancholiker, mir kann nicht viel passieren“, sagt Fabian im Roman – in diesem Film ist er aber auch ein Abenteurer. Schillings Jungenhaftigkeit überzeugt deshalb vor allem in der Amour Fou mit Cornelia Battenberg, mit der er unverhofft eine intelligente und witzige Form von Glück erlebt. Saskia Rosendahl ist diese gleichermaßen berechnende wie sehnsuchtserfüllte Mädchenfrau, der man abnimmt, dass sie sich nicht recht entscheiden möchte zwischen der Liebe ihres Lebens und dem Aufstieg zum Filmstar.

Dominik Graf schneidet immer wieder historisches Schwarzweiß-Filmmaterial in seinen Fabian, hier und dort wackelt eine Handkamera über den Flur oder wir sehen die Bilder plötzlich so grobkörnig, als hätte man zwischendurch zur Super-8-Kamera gegriffen. Und ja: Jemand wie Graf kann es natürlich nicht einfach dabei belassen, eine wenn auch großartige, ja mitreißende Liebesgeschichte zu erzählen. Deshalb setzt der Film nicht nur in der Berliner U-Bahn von heute ein (Achtung: Gegenwartsbezug!), sondern endet auch mit den Bildern jener Bücherverbrennung, auf deren Scheiterhaufen die Nazis auch Kästners „Fabian“ in Flammen aufgehen ließen (Achtung: politisches Menetekel!).

Grandios die Nebenrollen: Meret Becker, Albrecht Schuch und Michael Wittenborn

Grandios wird dieser Film nicht durch solche Randerscheinungen, sondern durch die Besetzung der Nebenrollen: Meret Becker torkelt, tobt, schnurrt, rast und funkelt mit Lust als Nymphomanin von Format durch den Film, als wäre sie nie eine andere gewesen; Albrecht Schuch als Fabians Freund Labude, Michael Wittenborn als dessen Vater – alles große Schauspielkunst für einen großen Film.