Essen. Gleich zwei neue Romane erzählen von der Familienbande: Daniela Kriens „Der Brand“ und John von Düffels „Die Wütenden und die Schuldigen“.

Im Corona-Frühjahr 2020 werden Familienbande entwirrt, es geht um das (einsame) Sterben und um die Suche nach dem, was eigentlich zählt: Gleich zwei Romane verwandeln in diesem Sommer solcherlei Gegenwart in Literatur, suchen in der Abgeschiedenheit eines Dorfes Antworten auf die Fragen des Alterns und werfen einen kritischen Blick auf die Ängste und Sehnsüchte der Jugend.

Eine Almhütte in Oberbayern liegt in Schutt und Asche: So beginnt Daniela Kriens „Der Brand“. Eben dieser Brand zerstört die Urlaubspläne von Rahel und Peter – ein geordneter Rückzug vom Alltag, so war das gedacht; ausloten, was von ihrer Ehe noch übrig ist; wandern, reden, bilanzieren. Rahel und Peter leben in Dresden, sie ist Psychotherapeutin, er Literaturprofessor, die Kinder sind aus dem Haus.

„Der Brand“: Ein neuer Roman von Daniela Krien

Die Entfremdung von Peter kam so schleichend, wie Rahels Patienten ihr oft berichtet hatten: „Sein feiner Humor kippt nun öfter ins Zynische, und an die Stelle ihrer lebhaften Gespräche ist eine distinguierte Freundlichkeit getreten. Damit einhergehend – und das ist das Schlimmste – hat er aufgehört, mit ihr zu schlafen.“

Statt nach Bayern fahren Rahel und Peter dann in die Uckermark, um den halb verfallenen Hof von Ruth und Viktor zu hüten: Viktor hatte einen Schlaganfall. Ruth war bis zu deren Tod die beste Freundin von Rahels Mutter Edith. In Viktors Atelier stöbert Rahel nun in alten Zeichnungen, alten Geschichten, bis sie beschließt, Viktor die Frage zu stellen, die ihr ihre eigene Mutter nie beantworten wollte: Wer war Rahels Vater?

Autorin beherrscht die Kunst der leisen Töne

Wie genau Daniela Krien die feinen Verbindungslinien zwischen Menschen nachzeichnet, das zeigt sich aber vor allem an den verästelten Mutter-Tochter-Geschichten. Ediths Flatterhaftigkeit, die überall Bestätigung suchte, Rahels Bemühen um Tochter Selma: „Egal, wie viel Aufmerksamkeit und Liebe sie ihrer Tochter schenkte – Selma braucht mehr.“ Wie wenig sie überhaupt diese Generation und ihre hausgemachten Probleme versteht, so viel Leid, so viele Ängste und Störungen, so wenig handfeste Gründe dafür. Außer, aktuell: die Pandemie, ein willkommener Katalysator.

Daniela Krien beherrscht die Kunst der leisen Töne, erzählt präzise Geschichten, die auch dramatisch sein können, aber doch stets wie aus dem Leben gegriffen scheinen. Und bringt noch in den Nebenschauplätzen Grundsätzliches unter, verhandelt etwa in der Figur Simon – der bei der Bundeswehr Offizier werden will – Fragen von Vaterlandstreue und Ost-Identität.

Sorge um den Hof in der Uckermark

Zugleich verankert sie ihr Ehepaar in der Flora und Fauna der Uckermark, in der Sorge um den Hof und seine Pflanzen und Tiere, im Schwimmen im See, im Spazieren auf staubigen Feldwegen: Einmal mehr ist dieser Roman ein Sommerroman, leicht und schwebend. Wie Krien ihre Figuren der Welt leicht entrückt und die Themen der Gegenwart in Halbsätzen einsickern lässt, das erinnert an ihre früheren Werke: den Sommerhit des Jahres 2019, „Die Liebe im Ernstfall“ (180.000 verkaufte Exemplare allein in Deutschland!) ebenso wie ihr grandioses Debüt „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“, das von Emily Atef verfilmt wird.

Ganz große Fragen im neuen Buch von John von Düffel

Plakativ: Das ist das Erste, was einem nach der Lektüre von John von Düffels „Die Wütenden und die Schuldigen“ einfällt. Es mag an dieser unseligen Eigenwerbung auf dem Buchrücken liegen, dass der Blick von der ersten Seite an kritisch ausfällt: „Es ist Zeit, zu den großen Fragen zurückzukehren“ steht dort in großen Lettern, gezeichnet: John von Düffel. Was für ein Ausruf! Und wie eitel. Als hätte er – und so viele andere – nicht auch zuvor schon „große Fragen“ behandelt, und wie sind die überhaupt von den kleinen zu unterscheiden?

Richard ist protestantischer Pfarrer in der Uckermark, in seinem halb verfallenen Haus wartet er fantasierend auf den Tod. Seine Enkelin Selma kommt mit Kathi, einer Freundin der Mutter Maria: Kathi ist Anästhesistin und soll Richard beim Sterben helfen. Maria ist ebenfalls Ärztin und gerät in diesem Corona-Frühjahr 2020 in Quarantäne. Die will sie keinesfalls in den eigenen vier Wänden verbringen. Denn dort hat sich gerade Sohn Jakob eingenistet, nachdem er bei seiner Freundin Ilvy rausgeflogen ist.

Autor behält die dramaturgische Übersicht

Ein Wasserschaden lässt Maria beim Nachbarn oben klingeln, der sich als Rabbi vorstellt. Bei ihm wird Maria wohnen, während Jakob mit der Schwärmerei für seine Kunstprofessorin Milena kämpft, ein weiterer Zweig dieser sehr verflochtenen Handlung.

Was glauben wir, wo kommen wir her, wie sehr haben unsere Vorfahren uns geprägt? John von Düffel mischt die Biografie-Karten neu und kühn und behält dabei doch die dramaturgische Übersicht. Etwas bemüht wirken die wiederkehrenden Symbole: Eisbären, Eisbärenfelle und Katzen, die entweder Todesboten sind oder selbst krank. Und wenn am Ende Maria in ihrem Nachbarn, dem Rabbi, den eigenen Großvater zu erkennen glaubt, er sich in die Familiengeschichte fügt wie ein Puzz­lestein – dann erinnert uns John von Düffel daran, dass auch Märchen plakativ sind.