Essen. Vom Preis der Freiheit: Daniela Kriens verflochtene Erzählungen im Band „Muldental“ stellen Schuldfragen – und erzählen nicht nur vom Osten.
Wenn es so etwas gibt wie einen literarischen Sommerhit, dann war dies im vergangenen Jahr Daniela Kriens Roman „Liebe im Ernstfall“: Der Unmöglichkeit einer perfekt balancierten Beziehung setzte Krien Protagonistinnen entgegen, die sich trotzig mit den Umständen arrangierten; nur ganz subtil ließ die Autorin die Unterschiede zwischen Ost- und Westbiografien durchscheinen.
Nun legt der Diogenes-Verlag, der Kriens Roman zum Erfolg verholfen hat, nach: mit dem Story-Band „Muldental“. Die Leipziger Autorin aber knüpft hier weniger an ihren jüngsten denn an einen früheren Roman an (was bei Leserinnen zu Enttäuschung führen könnte): „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ spielte während der Wendezeit in einem Dorf im Osten. Und auch das Muldental ist geprägt von den Verwerfungen, die der Wechsel von einem Staat zu einem anderen mit sich brachten.
Daniela Krien dringt tief in das Innenleben ihrer Figuren vor
Das steht zuweilen recht aufdringlich, arg plakativ im Vordergrund: In „Mimikry“ etwa macht Anne im Westen eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin und erzählt daheim ihrer Mutter von den Anfeindungen, die sie als „Ossi“ erlebt; was sie nicht erzählt: wie sie mit ihrem Kumpel Mattis nachts durch die Straßen zieht, Kratzer in Autotüren zieht, Metallsterne abbricht.
In anderen Erzählungen aber dringt Krien tiefer in das Innenleben ihrer Figuren vor, so dass ihre Geschichten individueller, weniger zeigefingerhaft scheinen: Warum Juliane jetzt bei Wiebkes Familie putzen geht, obwohl doch beide im selben Jahr das Studium der Kunstgeschichte beendet haben, das lässt Krien klug offen. Spannender scheint ihr offenbar die Frage, ob Juliane die Ungerechtigkeit der Lebensläufe ausgleichen wird, als sich ihr Gelegenheit bietet – weil sie alte Liebesbriefe im Putzschrank findet, mit denen sie Wiebke erpressen könnte, wenn sie wollte. Will sie?
Man sieht sich immer zweimal im Leben, diese Binse gilt im Muldental vielleicht mehr denn andernorts. So sind die Geschichten miteinander verflochten, verbunden, verraten oft nach Jahren erst ihre Pointe. Maren etwa, die in „Plan B“ gemeinsam mit der ebenfalls alleinerziehenden Betti eine viel zu lange Weile lang ihr Geld als Prostituierte verdiente, wird im letzten Teil dieses Reigens ein spätes Glück finden. Und hier sehen wir auch noch einmal Marie mit anderen Augen, die ihren Mann einst für die Stasi bespitzelte.
Jede Story birgt einen wahren Kern, den Daniela Krien literarisch verarbeitet
„Ehepartner entpuppt sich als Stasi-Spitzel“: Dies war eine der kurzen Notizen, die Krien für diesen Storyband sammelte, so schreibt sie im Vorwort – jedes Schicksal, das sie hier literarisch verarbeitet, birgt einen wahren Kern. Die Freiheit, mit der wir heute Entscheidungen treffen, bedeuten für die Autorin auch: „Jeder trägt die unausgesprochene Schuld für sein Versagen allein. Kein Gott, kein Kollektiv, keine übergeordnete Macht nimmt sie ihm ab.“
Liest man ihr Buch unter dem Gesichtspunkt von Freiheit und Schuld, offenbart sich: Kriens Osten ist überall, ihr Dorf könnte ebensogut Großstadt sein; die Zwänge und Entscheidungen, die Fragen von Zugehörigkeit und Vorurteil bestimmen unser aller Leben.
Daniela Krien: Muldental. Diogenes, 240 S., 22 €.