Essen. Vor 150 Jahren kam der Autor der „Suche nach der verlorenen Zeit“ zur Welt: Marcel Proust – Salonlöwe, Dauerpatient und „Märtyrer des Glücks“.

Im Rennen um den Titel „Ungelesenster Klassiker der Weltliteratur“ dürfte Marcel Prousts Riesenroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ sogar noch eine Buchrückenbreite vor dem „Ulysses“ von James Joyce liegen. Nur unter Autoren ist es vollkommen unüblich, zuzugeben, man habe die sieben Bände, die je nach Ausgabe zwischen 4000 und 6000 Seiten umfassen, nicht gelesen. Der deutsche Schriftsteller Bov Bjerg lieferte dazu in einer Umfrage der „Frankfurter Allgemeinen“ die nur halb parodistische Erklärung: „Die wenigen Kolleginnen, die sich leichtsinnig zu ihrer, ach, dieser Lücke, dieser entsetzlichen Bildungslücke, bekannt haben, wurden stante pede aus dem kulturellen Gedächtnis getilgt. Ihre Namen sind – völlig zu Recht – vergessen.“

Das euphorische Vergnügen Proust an detailverliebten Beschreibungen und seine Manie, auch abwegigen, ja absurden Einfällen und Gedankengängen nachzugehen in der Hoffnung, sich selbst zu begegnen, sind allerdings größere Hindernisse als der schiere Berg an Seiten, Kapiteln, Büchern, welche die „Suche“ umfasst.

Zeugnis für fortgesetzte Wirklichkeitsverweigerung

Aber sie ist und bleibt das beeindruckendste Zeugnis der europäischen Literatur für fortgesetzte Wirklichkeitsverweigerung: Was als psychiatrische Therapie gegen Prousts Depressionen nach dem Tod der Eltern 1903 und 1905 begann, wurde eine Obsession für den Rest des Lebens: Die möglichst weit führende Rückerinnerung an jene Kindheit, die am 10. Juli vor 150 Jahren in Paris begann. Prousts Vater Adrien war übrigens ein international geschätzter Lungenfacharzt, Epidemiologe und Cholera-Experte, der den Begriff „Cordon Sanitaire“ als Seuchenschutzgürtel für Europa prägte...

Pferde und erste Autos: Paris um 1900.
Pferde und erste Autos: Paris um 1900. © Lebrecht Music & Arts / Alamy Stock Photo

Eine Kindheit in der französischen Großbourgeoisie kannte jedenfalls keine Sorgen, mit Ferien in den Seebädern der Nordküste oder bei den Großeltern auf dem Lande in Illiers am Ufer des Loir, das vor 50 Jahren, zum 100. des Autors, in Illiers-Combray umgetauft wurde, nach dem fiktiven Ortsnamen in der „Suche“. Hier war der kleine Marcel derart glücklich, dass er einmal sogar verzweifelt den blühenden Weißdorn umarmte, als er überraschend abreisen sollte.

Der „Psychobotaniker“ nutzt sexuell aufgeladene Pflanzenbilder

Überhaupt: Blumen und ihre Beschreibung würden allein ein ganzes Buch in der „Suche“ füllen, Proust-Experten nennen ihn gar einen „Psychobotaniker“, dessen Pflanzenbilder nicht selten auch sexuell aufgeladen sind. Dass Proust neben Frauen auch Männer begehrte, kaschierte er nur bis zum Tod seiner Eltern.

Am Anfang der „Suche“ löscht der Erzähler vor dem Einschlafen noch das Kerzenlicht, in späteren Bänden wird er mit seiner Großmutter telefonieren (mit Störungen, wie sie heute wieder von Videokonferenzen vertraut sind, aber auch schon mit der Phantasie von einem Bildtelefon). Eine Ära der rasanten Umbrüche: Freud löst das Ich in ein Spiel von Trieben auf, die Malerei sucht das Unsichtbare – und der Weltkrieg steigert Mordlust und Massensterben in unvorstellbare Dimensionen.

Proust war ein leidenschaftlicher Kranker

Auch deshalb sucht der asthmakranke Proust, der erste schriftstellerische Versuche in süffisanten Porträts von Pariser Salons und ihrem großbürgerlichen oder hochadeligen Publikum für Zeitungen unternahm, immer mehr den Rückzug. Weite Teile seiner „Suche“ wird er in einem korkgetäfelten Zimmer schreiben, nachts, auf dem Bett aus Eisen und Messing liegend und auf den Ellbogen gestützt. Seit dem Schock des ersten Asthma-Anfalls mit neun war Proust ein leidenschaftlicher Kranker, den schon das Umsorgtsein viele Schmerzen ertragen ließ. Theodor W. Adorno nannte ihn einen „Märtyrer des Glücks“.

Prousts Detailgenauigkeit aber ist Programm: Er suchte letztlich nach der Identität, wie sie ein Kind mit der ganzen Welt als Heimat empfindet, bis die Entfremdung mit zunehmender Reife wächst. Letztlich geht es nicht um Krümel wie die berühmten in Tee getunkten Madeleines, sondern um die ganze Welt, die sie heraufbeschwören, nach der ungeschmälerten Erfahrung. Die darin empfundene Wahrhaftigkeit, das auch spürt der Suchende Marcel, verschwindet in einer Welt, in der es nach Nietzsche die eine Wahrheit gar nicht mehr gibt, weil sie sich in lauter Perspektiven aufgelöst hat. So wie in der Physik Einsteins Theorie sogar Raum und Zeit abhängig werden lässt vom Bewegungszustand der Betrachtung. Am Ende geht es ums Suchen, nicht ums Finden: „Die Sehnsucht lässt alle Dinge blühen, der Besitz zieht sie in den Staub.“