Essen. Auf diese Seiten können Sie bauen: In einer Serie stellt die Kulturredaktion Bücher vor, die trösten, erhellen, aufmuntern. Diesmal: Klassiker.
Die besten Bücher sind wie Freunde, sie begleiten einen ein Leben lang. Zuweilen auch für Jahre völlig unbeachtet im Regal, doch in der Not kann man sich immer auf sie verlassen. Britta Heidemann, Monika Willer und Jens Dirksen aus unserer Kulturredaktion stellen eine Auswahl von höchst persönlichen Lieblingstiteln vor, die sie in ihren Buchregalen fanden und mehr zu bieten haben als nur Zeitvertreib: „Beste Freunde für die Krise“.
„Aristipp“ (Christoph Martin Wieland)
Eigentlich wollte ich zum „Simplicius Simplicissimus“ von Grimmelshausen greifen, um mich daran zu erinnern, dass wir immer noch komfortabel leiden. Aber an der Stele ist jetzt eine Lücke im Regal. Ich erinnere mich: Beim letzten Ausmisten der Bücherwände war mir aufgefallen, dass meine alte Taschenbuchausgabe so schlecht geklebt war, dass sie beim nächsten Lesen auseinandergefallen wäre. Altpapier. Bücher haben ihre Schicksale. Also „Aristipp“, der wunderbare, unvollendete Briefroman von Christoph Martin Wieland, voller Weisheit, die mit jedem neuen Brief wieder anders dasteht. Später wird Nietzsche sagen, dass es keine Wahrheit gibt, sondern nur Perspektiven auf sie. „Aristipp“ habe ich zuletzt im Studium gelesen – mit Anstreichungen. Heute, merke ich schnell, hätte ich andere Passagen markiert.
„Buddenbrooks“ (Thomas Mann)
Die Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Bürgertums verdichtet Thomas Mann in den „Buddenbrooks“ zur Weltliteratur. Familien gehen immer, das wissen bis heute die Serienmacher im Unterhaltungs-Fernsehen. Diese aufregendste aller Familiengeschichten aus der Wende zum 20. Jahrhundert öffnet jedoch einen Bilderbogen, der weit über die Schlüssellochperspektive mit Erfolgen, Skandalen und schwarzen Schafen hinaus geht. Hier blättert sich in ironischer Brechung auf, was die Nation von 1848 bis zur Industrialisierung prägt: Protestantische Arbeitsethik, Unternehmergeist und Kirchturmdenken. Über allem aber sind die Buddenbrooks ein Sprachkunstwerk. Man kann sich nicht sattlesen an diesen Sätzen.
„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (Marcel Proust)
„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“, dies ist einer der berühmtesten ersten Sätze der Weltliteratur – und zugleich das Tor zu einer ganz persönlichen Erinnerung: wie es war, sich in der verlorenen Zeit zu verlieren, zwischen Band eins und Band zehn des schwarzen Suhrkamp-Schubers abzutauchen, zu Albertine und Gilberte und zu Odette, Gilbertes Mutter, die dieser seltsame Swann so liebte.
Den Erzähler drängt das Gefühl, das ihm das große Werk, der große Wurf in seinem Leben nicht gelungen ist, weil er sich ablenken ließ: Also schreibt er nun das auf, was ihn so ablenkte – und eben damit gelingt ihm doch noch das große Werk. Was für eine Ironie. Und was für Sätze, mäandernd, suchend, als würden wir durch einen Traum stolpern. So wird die verlorene zur geschenkten Zeit, die sich dehnt und reckt und streckt.
„Orlando“ (Virginia Woolf)
Auf der Fischer-Taschenbuchausgabe von 1992 prangt der Titel in Latzhosenlila. Das zweite große Woolf-Klischee ist die Annahme, es stets mit hochkomplexer, tieftrauriger Lektüre zu tun zu bekommen – die einen steinschwer in den Fluss der Melancholie hinabzieht und so das tragische, selbstgewählte Ende der Autorin vorausahnt.
„Orlando“ aber nannte Woolf selbst eine „Eskapade“, einen „Witz“: Die fiktive Biografie eines Adeligen, der um 1500 geboren wird und bis heute durch die Welt streift, zwischendurch das Geschlecht wechselt, gar Mutter wird. Abbildungen und ein Register ergänzen diese von Klaus Reichert herausgegebene Ausgabe, erstmals in Deutschland erschien damit das Werk so, wie Woolf es 1928 ersann: Als spöttische, geistreiche, bissige, freigeistige Liebeserklärung an ihre (adelige!) Freundin Vita Sackville-West. Eine Virginia Woolf, vor der man keine Angst haben muss: perfekte Einstiegsdroge!
„Berlin Alexanderplatz“ (Alfred Döblin)
Wunderbar! Ich hatte ganz vergessen, dass „Berlin Alexanderplatz“ der letzte Barockroman der Literaturgeschichte war, mit vorweggestellten Inhaltsangaben für das ganze Buch und jedes Kapitel, wie bei Grimmelshausen. Ich habe mir, auch schon wieder 20 Jahre her, mal einen Neudruck der Erstausgabe gekauft, meine Taschenbuchausgabe war von derselben Qualität wie der „Simplicissimus“. Und jetzt sehe ich: Die Buchstaben sind arg klein! Ob sie im Laufe der Zeit eingelaufen sind?
Ein fantastischer Roman, voller Farbe aus den späten 1920er-Jahren, man sieht einem Charakter beim Verbeult- und Zugerichtetwerden zu, ungeheuer realistisch, Psychologie pur. Ich freue mich jetzt doppelt auf die Nach-Corona-Zeit, wenn die Verfilmung von Burhan Qurbani ins Kino kommt, die unseren Kritiker bei der Berlinale so verzückt hat.
„Der Herr der Ringe“ (J.R.R. Tolkien)
Tolkiens Klassiker ist ein Roman, der einen in keiner Lebenslage im Stich lässt. Das liegt schon an dem üppigen Umfang von knapp 1000 Seiten (in der grünen Ausgabe). Es handelt sich sozusagen um gehamsterte Lektüre, die hält eine Weile vor. Faszinierend ist, wie Tolkien die heile Welt des Auenlandes unmerklich verstört. Die Bedrohung tritt nicht mit einem Schock ein, sondern schleichend. Lange bleibt sie namenlos, ein Schatten nur, eine Angst.
Aber natürlich rollt der „Herr der Ringe“ auch die üppigste Parallelwelt aus, die je erfunden wurde, mit Landschaften, an denen man sich nicht satt lesen kann und Charakteren, die einem nahekommen wie Freunde. Nicht zuletzt ist der „Herr der Ringe“ ein Roman über die Tragödie des Helden. Dadurch, dass er die Welt rettet, wird ausgerechnet der Held so versehrt, dass er nicht mehr in diese gerettete Welt passt. Das ist eine tiefe und traurige Erkenntnis von universaler Gültigkeit.