Bochum. „Einfach da sein“: Bis 2023 ist Barbara Frey Ruhrtriennale-Intendantin: Auf einen Interview-Spaziergang mit ihr rund um die Jahrhunderthalle.

Mit Barbara Frey (58) hat erstmals eine Schweizerin die Regie bei der Ruhrtriennale übernommen. Über ihr erstes Programm, das sie Ende des Monats der Öffentlichkeit vorstellen möchte, wollte sie beim coronakonformen Spaziergang-Interview rund um die Bochumer Jahrhunderthalle mit Jens Dirksen nicht sprechen (allerdings kam ein spontanes „Ja, sicher!“ auf die Frage, ob sie auch selbst inszenieren werde); nähere Auskünfte dazu, welche Rolle bei der Triennale 2021 Michael Maertens, Fritzi Haberlandt und Corinna Harfouch im Schauspiel, Peter Brötzmann, Olga Neuwirth, Rebecca Saunders und Sylvain Cambreling in der Musik oder Albert Oehlen und Tobias Zielony in der Kunst übernehmen werden, gab es also nicht...

Frau Frey, Sie haben Ihre künstlerische Karriere als Rock-Schlagzeugerin begonnen – trommeln Sie eigentlich noch?

Barbara Frey: Leider nein, ich trommle höchstens mal mit den Fingern auf dem Tisch. Das Schlagzeugspielen erfordert viel Zeit zum Üben, die habe ich nicht mehr. Das Trommeln fehlt mir und ich träume manchmal davon, wieder Schlagzeug zu spielen.

Wie haben Sie denn zum Trommeln gefunden?

Ich hatte die in einem bürgerlichen Haushalt üblichen Klavier- und Gitarrenstunden. Das Trommeln machte mir jedoch größeren Spaß.

Aber nicht in jedem bürgerlichen Haushalt stehen Trommeln herum.

Ich habe mir aus einem „Omo“-Karton Trommeln gebaut – ich weiß gar nicht, ob es das Waschmittel in diesen großen runden Kartons noch gibt. Unten habe ich eine Packung Buntstifte hineingelegt, so dass der Klang dem einer Snare-Drum ähnelte. Das hielt leider nicht lang. So bekam ich irgendwann ein richtiges Schlagzeug.

Welche Musik haben Sie denn als Kind gehört?

Meine Mutter hat sowohl mich, als auch meinen Bruder und meine Schwester früh Klassik und Pop gleichermaßen hören lassen. Ich erinnere mich, dass ich schon als Dreijährige zu den Beatles durch das Zimmer gehüpft bin.

Sie waren das Sandwich-Kind, hat Sie das geprägt?

Das weiß ich nicht, höre das jedoch viel bei anderen, wenn sie über sich und ihre Familien erzählen. Drei Kinder erleben ja ohnehin drei Väter und drei Mütter und erst im Rückblick stellt sich heraus, wer war für wen was? Schauen Sie sich etwa diesen Himmel über uns an, der – für mich – so aussieht, wie auf den Bildern der alten holländischen Maler! Jede Gegend hat ihren eigenen Himmel.

Und der in der Schweiz ist das Gegenteil von dem überm Meer?

Ob Matterhorn oder Meer, gemeinsam ist der Natur letztlich diese monumentale Gleichgültigkeit gegenüber uns Menschen. Wir sind so unwichtig. Da sind Gebirge und Meer wie Bruder und Schwester.

Und hier sind wir irgendwo dazwischen.

Irgendwo dazwischen, das ist gut formuliert für diesen schönen, noch jungen Park auf und über einer alten ehemaligen Industriefläche. Man möchte dieser Schönheit fast nicht glauben.

Sie haben in Österreich in Salzburg und am Wiener Burgtheater inszeniert, Sie haben viel in Hamburg, München und Berlin gearbeitet, Sie haben zehn Jahre lang das Zürcher Schauspielhaus geleitet – gibt es einen Unterschied, was das Publikum angeht?

Es gibt große Unterschiede, nicht nur zwischen Ländern, auch zwischen Regionen. Die Darstellende Kunst – die Sparte, in der ich mich vorwiegend bewege – besitzt in Deutschland mit dieser unvergleichlichen Fülle an Stadt- und Staatstheatern sowie der Freien Szene eine große Bedeutung für das hiesige Publikum. In Zürich, der Stadt, die ich gut kennengelernt habe, war das Publikum sehr aufmerksam, interessiert. In der Begegnung mit Neuem zugleich erst einmal distanziert. Das Baseler Publikum hingegen war für mich sofort spürbar. Als ich Zürich nach zehn Jahren Intendanz dann verließ, habe ich zum Abschied so viel Liebe erfahren. Das war echte Zuneigung, aber man hält sich damit zurück, dies auch das Gegenüber spüren zu lassen. Wir Schweizer sind vielleicht auch miteinander ein bisschen scheu.

Oh, das ist hier ein bisschen anders, oder?

Diese nicht verletzende Direktheit des Ruhrgebiets, die gibt es so in der Schweiz nicht. Auch Robert Walser, den ich für den größten Schweizer Schriftsteller halte, zeichnet diese seltsame Mischung aus Nähe und Distanz aus. Die zur Schau gestellte Distanziertheit ist wie ein verzweifeltes Umkurven der Dinge. Die Orientierung kann dabei schnell verloren gehen. Walsers „Spaziergang“ ist so ein Buch, das von Seite zu Seite unendlicher wird.

Ihr Lieblingsbuch?

Ach, ich habe so viele Lieblingsbücher (überlegt länger). Nun, es ist ein schmales Büchlein, in dem doch alles über die Welt geschrieben steht, „Dubliners“ von James Joyce. Unglaublich, wie Joyce die ganze Welt in dieses Buch hineinkriegt, wie er Menschen und Zustände darin beschreibt. Ein kleines Nachschlagewerk.

Sie haben Germanistik studiert, wollten Sie Lehrerin werden?

Letztlich war das Studium für mich nur eine Verlängerung der Schule. Ich gehörte ins Theater. Ich erlebe mich nicht als zielstrebig, hatte nie einen Karriere- oder Lebensplan. Zugleich verstehe ich Menschen, die einer Lebensplanung folgen. In „Dubliners“ übrigens erzählt Joyce darüber, was geschieht, wenn Menschen mit einem festen Lebensplan plötzlich in ganz andere Umstände gerät.

Haben Sie deshalb Ihre Intendanz in Zürich aufgegeben?

Ich habe sie nicht aufgegeben, dachte einfach nach zehn Jahren in Zürich: Das war eine schöne Zeit, in der ich zweimal als Intendantin des Schauspielhaus Zürich verlängert worden bin. Ich hatte eine phänomenale Crew und ausgezeichnete Fach-Abteilungen mit großer Eigeninitiative und in einem kollegialen Miteinander, bei dem alle eingebunden waren und Fehler verziehen wurden. Es war einfach Zeit für etwas Neues. Es ist mir wichtig, dass ich mich von etwas Neuem aufstöbern lasse.

Bei der Fülle von Inszenierungen, die Sie im Laufe der Zeit auf die Bretter gebracht haben: Hatten Sie je Sorge, dass Ihnen eines Tages die Ideen ausgehen, dass Sie keinen Zugang finden zu einem Bühnenstoff?

Man fängt ja immer bei Null an, mit jeder neuen Inszenierung. Das Nichtwissen ist ein elementarer Bestandteil unserer Arbeit als Kunstschaffende. Susan Sontag hat einmal sinngemäß gesagt, sie schreibe, um herauszufinden, was sie denke. So viele, von Virginia Woolf bis Heiner Müller, haben ihr künstlerisches Tun ähnlich empfunden. Und im Theater ist es noch einmal besonders: Ich kann und will den künstlerischen Prozess nicht allein gestalten, es ist eine gemeinsame Arbeit. Der Pakt ist, dass alle wissen, dass wir nicht wissen, wohin die Reise geht. Dieses potenzierte Nichtwissen lässt eine einzigartige kreative Situation entstehen. Wir versuchen, etwas über uns und die Welt herauszufinden. Ich brauche manchmal diese Phasen der Bodenlosigkeit, um in die Inspiration zu kommen.

Und das Ruhrgebiet ist für Sie neu?

Ich kannte die Region nicht wirklich, nur von Besuchen bei früheren Ausgaben der Ruhrtriennale oder wenn ich Inszenierungen am Schauspielhaus Bochum gesehen habe. Was mich immer beeindruckt hat: Ich gehe in die Kneipe, bestelle ein Pils und erlebe sofort diese besondere Tonalität, die ich so nicht kannte. Diese Stimmung hat mich fasziniert. Heute und nachdem ich die Region mehr und mehr kennenlerne, sehe ich viele Widersprüche, Erneuerung, zugleich soziale Nöte und strukturelle Herausforderungen. Das Ruhrgebiet ist einzigartig, unvergleichlich. Dass die Kultur in all die verlassenen Orte der Industrie eingezogen ist, diese Mischung zwischen der Härte der Industrie und dem Luftgeist der Künste, das gibt es nirgendwo.

Sie sind in diesem Jahr wieder mit einer Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen, den Schweizer Theaterpreis haben Sie auch schon bekommen. Wenn Sie sich entscheiden müssten zwischen der Anerkennung der Kritik und der des Publikums, welche wäre Ihnen wichtiger?

Das ist doch klar, dass wir die Kunst für die Menschen machen! Vielleicht sollte man diese Frage denen stellen, die auf der Bühne stehen, Schauspielerinnen und Schauspielern etwa. Ich als Regisseurin gehöre ja einer eher seltsamen Berufsgruppe an, weil ich nur einmal auf der Bühne stehe: bei der Premiere. Dann habe ich immer auch ein bisschen Angst vor dem Applaus. Da hilft nur eins. Nichts vorhersehen wollen, nie sicher sein. Das führt in die Irre. Besser: Einfach da sein. Die Birne, der Kopf muss frei bleiben!