Ferdinand von Schirachs neuer Erzählband „Strafe“ lotet die ewige Einsamkeit der Menschen aus
Neun Tote, noch mehr Verletzte. Reichlich Haftstrafen, einige abgebrochene Prozesse und peinliche Fehlurteile. Viel übrig gebliebene Schuld, manche Gerechtigkeit des Schicksals und immer wieder: die Paradoxien des Rechtsstaates. Und das alles in nur zwölf Geschichten. Kurz: Ferdinand von Schirach ist wieder da. „Strafe“ heißt sein neuer Erzählband.
Seyma wächst auf im Ruhrgebiet, ihr Vater ist Bergmann. Er zwingt sie, Kopftuch zu tragen. Direkt nach dem Abitur bricht Seyma mit ihrer Familie und zieht nach Berlin, studiert Jura. Einmal begegnet sie im Gerichtssaal einem alten Anwalt, der einen jungen Polizisten zurechtweist: „Finden Sie es anständig, sich über die Schwächen anderer zu erheben?“ Der Alte wird Seymas Mentor. „Subotnik“ heißt die Geschichte, sie ist mit gut 30 Seiten die längste in Ferdinand von Schirachs Buch und die aufschlussreichste. Denn auch der Strafverteidiger, der mit seinen Büchern ein Millionenpublikum erreicht, erhebt sich nie über die Schwächen anderer.
Ein wenig unheimlich ist der Sog, mit denen seine Stories ihre Leser in die Tiefen der bundesdeutschen Gerichtssäle hineinziehen, schon. Denn literarisch machen sie nicht viel her: Hier verliert sich der Autor in penibel geschilderten Abläufen: „Der Richter fragte die Frau nach ihrem Namen, dann las er den Haftbefehl vor und fasste die Ermittlungen für die Beschuldigten zusammen.“ Dort erfindet er Lebensläufe, so nichtssagend wie Kaufhauskatalogbilder: „Nach dem Abitur zog sie mit einer Schulfreundin in eine Zweizimmerwohnung und begann Politikwissenschaften zu studieren.“ Und an anderen Stellen serviert er Psychostudien seiner Protagonisten, die sich von der Wiege bis zur Bahre an ein simples Ursache-Wirkungs-Prinzip klammern.
Die Liebe zu einer Puppe
Was macht „Strafe“ zum Bestseller? Zum einen befriedigt das Buch voyeuristische Bedürfnisse, lässt in fremde Wohn- und Schlafzimmer blicken. Da geht es um die Komplexe zu klein geratener Männer und um fremde Perlenketten im Ehebett. Um die Liebe zu einer Puppe und um Selbstbefriedigung im Taucheranzug. Boulevard also, nur glaubwürdiger. Denn zugleich gibt Schirach – Erfolgsgrund Nummer zwei – seinen Stories gerne durch die Feinheiten der Rechtsprechung in letzter Sekunde einen neuen Dreh. Etwa, wenn es heißt, Selbstgespräche seien kein Beweismittel, da sie als „gesprochene Gedanken“ zur Intimsphäre gehören.
Oder wenn ein Kreuzberger Supermarktbesitzer, der mit mit 1,6 Promille im Blut und fünf Kilo Kokain im Kofferraum einen Unfall baut, nicht wegen des Drogendeliktes verurteilt wird – weil er bereits für Trunkenheit am Steuer belangt wurde. Und man nicht zweimal für die gleiche Tat verurteilt werden darf. Einmal mehr zeigt Schirach uns den Unterschied zwischen unserem Empfinden – und den Grundsätzen des Rechtsstaates. Auch in „Subotnik“ wird ein Frauenhändler nicht verurteilt werden – wegen eines kleinen Verfahrensfehlers. Den Seyma als seine Verteidigerin entdeckt hatte.
„Es war zuviel geworden“
Das dritte große Geheimnis des schirach’schen Sogs liegt in seiner Fähigkeit zur Innensicht. Seine Protagonisten sind allesamt (ob Anwalt oder Verbrecher) tragische Figuren, deren Verhalten völlig plausibel und zugleich absolut unverständlich ist. Je nachdem, ob man diese Figuren von außen betrachtet oder sich Schirachs Innensicht anvertraut, die von der ewigen Einsamkeit des Menschen erzählt. In der letzten Story erzählt ein Anwalt von einem Freund, der sich Mitschuld an dem tödlichen Überfall auf seine Frau gibt und daran zugrunde geht. Kurz darauf beginnt der Anwalt mit dem Schreiben: „Es war zuviel geworden. Die meisten Menschen kennen den gewaltsamen Tod nicht... Ich dachte an die Menschen, die ich verteidigt hatte, an ihre Einsamkeit, ihre Fremdheit und ihr Erschrecken über sich selbst.“
Ferdinand von Schirach: Strafe. Luchterhand, 192 S., 18 €