Essen. Heute ist der “Tag der Stimme“. Derzeit sind alle Opernhäuser verstummt, wir sprachen mit Tenor Torsten Kerl über sein “Instrument“.

Heute ist der „Tag der Stimme“. Erfunden haben ihn HNO-Ärzte und Logopäden, um Menschen daran zu erinnern, wie wichtig das Organ ist. Lars von der Gönna traf mit Torsten Kerl einen, der ohne Stimme seinen Beruf nie hätte ausüben können. Der aus Gelsenkirchen stammende Opernsänger spricht über sein Instrument, über Lautstärke und erklärt, warum Singen immer auch eine Lust ist.


Eine Stimme hat jeder. Sie besitzen eine der Wenigen, die ohne Mikro einen Saal mit 2000 Menschen flutet. Wie fühlt sich das an?


Kerl: Es kann einem als Sänger schon passieren, dass man nach einer Weile im Beruf über das Besondere gar nicht mehr nachdenkt: „Ich werde fürs Singen bezahlt, also singe ich!“ Aber ganz am Anfang, als ich noch nicht so singen konnte wie heute, da hat es mich schon sehr fasziniert.


Warum?


Ich habe ja erst Oboe studiert. Aber für Gesang brauchst du kein Instrument. Singen ist das Elementarste. Bei einer Geige oder einem Klavier ist immer ein Medium zwischengeschaltet. Aber Singen und Sprechen, das sind immer: wir selbst. Es ist das Universellste was wir haben. Das Medium sind wir!


Wie wird Stimme zu Kunst?


Das ist ein langer Prozess! Die Hollywoodfilme, in denen ein Bauarbeiter so schön am Betonmischer schmettert, im Handumdreh’n vom Agenten entdeckt wird und ‘ne Woche später an der „MET“ den Tristan singt, das ist schlicht Quark. Die Stimme eines Sängers ist ein ausgebildetes Trainingsorgan.


Wir reden von einem Instrument für das man kein Ersatzteil kaufen kann, wie ein Geiger, dem plötzlich die Saite reißt…


Genau. Ich habe nur eine Stimme Und man kann sich, anders als bei allen anderen Instrumenten, nicht dahinter verstecken.


Ein gewaltiger Druck! Muss man den als Profi vergessen, um diesen Beruf überhaupt zu schaffen?


Ja, das glaube ich schon. Zu große Angst ist aber auch nicht angebracht: Eine Stimme ist nicht durch einen Ausrutscher gleich kaputt. Unsere zentrale Stütze ist eine gute Technik – ein Opernsänger geht den langen Weg, aus einem Gebrauchsorgan etwas zu machen, was uns zuverlässig Leistung abrufen lässt.


Sie haben eine große Stimme, extrem ausdauernd und dazu mit der Möglichkeit, sehr laut zu singen. Können Sie den Satz Ihrer Kollegin Christa Ludwig nachvollziehen: „Über ein 100-Mann-Orchester drüberzuschreien, das kann schöner sein als Liebe machen!“?


(lacht) Bedingt. Und ergänzen: Einen Liederabend bis ins fast unhörbare Pianissimo zu gestalten, ist genauso wundervoll. Einfach laut zu singen, ist nicht anstrebbar und auch unklug.


Inwiefern?


Es ist so, wie sich ein kleines Auto zu kaufen und die Qualitäten eines Sportwagens zu erwarten. Klar kann man damit auch mal Gas geben, aber es ist nicht dafür gebaut. Wenn Sie es per Bleifuß herausfordern, wird es Ihnen irgendwann kaputt gehen.


Auch Ihre Stimme, die so oft „Tristan“, „Tannhäuser“ und „Siegfried“ war, ist also ein Kleinwagen, den man schützen muss?


Natürlich. Aber jede Kehle ist individuell, manche sind Natur aus laut. Fein und leise zu singen, ist für bestimmte Sänger viel mehr Arbeit.


Ist es eine Legende, dass kluge Sänger sehr wenig sprechen?


Einer meiner Gesangslehrer hat gesagt: Wenn ein Sänger nicht singt, dann schläft er. Ich würd’ noch ergänzen: „dann isst er“. (lacht) Sprechen vor der Vorstellung ist nicht unbedingt notwendig. Aber das gilt fürs Singen auch. Wir sind ja Hochleistungssportler. Kein Bundesliga-Spieler würde vor dem Anpfiff 90 Minuten über den Platz laufen! Aufwärmen reicht.


Reden wir über die Stimme im Alltag: Viele, die es nötig hätten, haben kaum Ausbildung. Lehrer zum Beispiel. Warum schätzen wir die Bedeutung der Stimme gering?


Es gibt einfach immer mehr Menschen, die nur das Nötigste tun, um ein Ziel zu erreichen. So wie man auch ein Leben lang von Tiefkühlpizza satt werden kann, obwohl das ungesund ist. „Reicht doch!“, scheint mir oft die Botschaft darunter zu sein. Der steinige Weg, das beharrliche Üben – das ist leider in vielen Bereichen nicht mehr gewünscht. Irgendwann folgt daraus dann das „Nicht mehr wissen, wie“.


Schon in Grundschulen wird heute vielfach nicht mehr viel gesungen. Was bedeutet das Geschenk, zum Singen animiert zu werden, für Kinder ganz konkret?


Spaß vor allem! Die Freude, aus sich allein heraus etwas zu erzeugen ohne jedes Hilfsmittel. Und das Mitteilungsbedürfnis zu fördern; Singen heißt ja auch: Hört mir zu! Und wenn man das begeistert tut, ist gute Laune immer dabei. Singen befreit – und ich glaube, dass das Kindern unheimlich gut tut. Wenn wir das nicht besser fördern, sägen wir an einer zutiefst menschlichen Äußerungsform.

ZUR PERSON:

Der Tenor Torsten Kerl wurde 1967 in Gelsenkirchen geboren. Der Waldorfschüler absolvierte nach einem Oboen-Studium an der Essener Folkwang-Hochschule eine Sänger-Ausbildung.
Torsten Kerls Karriere führte ihn an die großen Opernhäuser der Welt, etwa die Wiener Staatsoper, die Deutsche Oper Berlin und die Opéra Bastille Paris. Er sang bei den Festspielen in Bayreuth, Glyndebourne und Salzburg. Als Schwerpunkt Kerls gelten schwere Partien im deutschen Fach wie Wagners „Tristan“, „Tannhäuser“ und „Siegfried“. Heute hat Kerl seinen Wohnsitz im Münsterland.