Essen. Ein Knirps, zu dem die Toten sprechen: Erfolgsautor Stephen King variiert in seinem neuen Roman „Später“ ein bekanntes Thema.

Bestimmte Genres des Buchmarktes leben von bestimmten Behauptungen: Rosamunde Pilcher und Barbara Cartland etwa beteuerten lebenslang, die große Liebe gebe es immer. Für das Metier, dessen Großmeister wir Stephen King nennen dürfen, müsste diese Leitplanke eher heißen: „Glaub’ nie, dass es zu Ende ist!“ – und das ist nicht nett gemeint.

Im jüngsten, heute in Deutschland erscheinenden Roman ist etwas sehr Zentrales nicht zu Ende, obwohl alle außer dem kleinen Jamie Conklin das glauben: das Leben, eben ausgehauchtes zumal. Manche Tote (das müssen wir King nun abnehmen, sonst wäre der ganze Unterhaltungsschauer für die Katz), manche Tote wollen einfach noch was sagen. Was sie allerdings doch ein bisschen anders macht, als Menschen, die leben: Sie sagen unentwegt die Wahrheit. Jamie ist einer der ganz wenigen, die das wissen (und hören können).

Heute erscheint Stephen Kings neuer Roman „Später“

Das ist für ihn ein Schock. Für jeden Anderen liegen die Toten tot im Bett, verunfallt auf der Straße oder sonstwo. Der Knirps aber sieht sie als Beobachter der Szenerie. Auf Parkbänken, in Trauerhallen. Unbeteiligt, mitunter trockenen Witzes fähig. Als der seit Minuten verwitwete alte Nachbar klagt: „Ich vermisse sie jetzt schon!“, sagt dessen frisch verstorbene Frau zu Jamie: „Wahrscheinlich dauert es nicht mal sechs Wochen, bis er Dolores Magowan zum Mittagessen ausführt.“

Derart amüsant fängt es für uns an, was nicht zuletzt an der eleganten Kaltschnäuzigkeit liegt, mit der King ganz früh allen den Zahn zieht, die seine Story bei „The Sixth Sense“ abgekupfert sehen. „Also ja, ich kann tote Leute sehen. (...) Aber es ist nicht so wie in dem einen Film mit Bruce Willis“, sagt der Ich-Erzähler.

Kings Roman „Später“ spielt im Amerika des 21. Jahrhunderts

Kings Roman „Später“ ist keine seiner Retro-Reisen. Wir sind mit ihm kurz vor der amerikanischen Gegenwart, durchleiden mit Jamies Mutter, einer Literaturagentin, das Schurkenstück der US-Immobilienkrise von 2008. Uber setzt bereits Taxen zu. Mit Mama und ihrer lesbischen Polizistin-Freundin sitzen wir lachend vor der „Big Bang Theory“. King baut ins Grauen, das spät auf den Plan tritt, Jamies Talent als Rettungsmoment ein. Der bestsellernde Kitsch-Schreiber Regis Thomas („Die Geistermaid von Roanoke“), der Mutter in der Finanzkrise als einziger Schriftsteller helfen kann, stirbt vor Vollendung seines von Millionen erwarteten Romans an einem Infarkt. Was tun? Das Trio rast zum Wohnhaus – und Jamie befragt Thomas so lange, bis Mutter daraus den Millionenseller stricken kann. Niemand zweifelt an Regis’ Autorenschaft, was ja typisch King ist: Die besten Geschichten glaubt einem sowieso niemand.

Mit ihrer deftigen Kelle Erkenntnis hinsichtlich des Verhältnisses von Auflage, Niveau und Autorenpersönlichkeit ist Kings Skizze eine der komischsten Passagen des Romans. Thomas, dem alle 50 Seiten die saftigsten Beischlaf-Varianten gelingen (auf alten Baumstämmen, im „Todessumpf“, direkt darunter haufenweise hungrige Alligatoren), ist im wahren Leben ein soziophobes Hutzelmännchen mit dem Gesicht „einer ledernen Damenhandtasche“. Auch sonst: köstliche Einblicke in ein Amerika-Universum aus unaufhaltsamem Verfall, lausigem Glücksrittertum und zugleich – immer wieder – unausrottbar warmherziger Menschlichkeit.

Gefährlich nah an Sinclair: Die Horrorszenen geraten King allzu dick aufgetragen

Schade indes: Je deutlicher King die Geschichte Richtung harten Horror dreht, desto schmaler ihr Güte-Grat. Jamie verhindert mit seiner Gabe einen Terroranschlag. Dessen monströser Urheber wird der Dämon seines Lebens. Das funktioniert erzählerisch nur mit erheblicher Lautstärke – und leidet unter dem nah an der Lächerlichkeit siedelnden Auftritt des Bösen im Flaschengeist-Stil.

Nicht nur darum riecht es in „Später“ leider mehr als einmal unschön nach der Groschenspukwelt eines John Sinclair. Wer hätte gedacht, dass in uns altgedienten Fans eines Tages der unkeusche Wunsch nach einem King ohne Teufelei Platz griffe, der da sagt: Vielleicht wäre er am besten, wenn er die Toten einfach mal ruhen ließe.

Stephen King, Später, Roman, 304 Seiten, Heyne, 22€.