Wenn „Mr Mercedes“ Fahrt aufnimmt, findet Thriller-Altmeister Stephen King zur alten Form zurück. Die Story um einen Amokfahrer und die letzte Jagd eines alternden Polizisten ist zugleich eine große Geschichte aus dem Amerika unserer Tage.
Wer 400 Millionen Bücher verkauft hat, wird sich doch wohl selbst zitieren dürfen. Bei deutlich geringerer Publikumsfrequenz hat schon Mozart seinen „Don Giovanni“ zu Musik aus dem „Figaro“ feiern lassen. Im 21. Jahrhundert freilich fürchten amerikanische Cops, ein Auto könne „von allein anspringen wie dieser alte Plymouth in irgendeinem Horrorfilm“. Das Auto ist natürlich „Christine“, auch wenn die Polizei den Namen des furchtbaren alten Schätzchens vergessen hat. Der Vater der einen wie der anderen (heute erscheinenden) Geschichte kennt ihn nur zu gut. Es ist Stephen King – und das Zitat ist auch deshalb ein typischer King-Witz, weil eben nichts von allein anspringt in „Mr Mercedes“.
Das Bübchen, das ein Monster ist
Nein, kein Dämon, der einem Hotelhausmeister die Sicherungen ‘rausschraubt wie in „Shining“, kein pubertärer Ladenhüter, den der Satan zu seiner Handpuppe erwählt wie in „Carrie“. Selten, aber dann doch enorm treffsicher („Dolores“, „Sie“), hat der größte lebende Gruselbestseller das genaue Gegenteil beschrieben und damit lustvoll Schillers Glocke bimmeln lassen: „jedoch der schrecklichste der Schrecken...“ ist ganz und gar nichts Übernatürliches sondern der Mensch – in diesem Fall Brady Hartfield.
Das Bübchen, das ein Monster ist, hat eine Mutter, die für Freud die reine Freude wäre, fährt einen Eiswagen (ach, King, bitte hör nie auf!) und jobbt in einem PC-Laden mit sehr nützlichem Zugang zum amerikanischen Privathaushalt. Sind das nicht Lebensumstände zur Genüge, um sich ein „Meisterstück deutscher Ingenieurkunst“ zu klauen und damit ein Dutzend Jobsucher auf dem tristen Stellenmarkt der amerikanischen Provinz zu Klump zu fahren? Für King schon.
Aber Bradys blutige Spritztour ist nur das Vorspiel. Denn man hat ihn, „Mr Mercedes“, nie gekriegt. Und nun hockt ein fetter alter Cop vor der Glotze und den Täter juckt es dermaßen, dass er den schmerbäuchigen Detective Hodge herauslockt.
Man möchte meinen, Stephen King erzählt eine Geschichte, die schon tausendfach auf den Thriller-Markt geworfen worden ist: alter Fall, alter Polizist, neue Spur, letztes Gefecht. Das stimmt. Aber weil King King ist, erzählt er sie anders, eben auch als große Geschichte aus dem Amerika unserer Tage, einem Abstiegsland mit desorientierten Soldaten, einer hohlen Hochkultur mit lächerlichen Beisetzungsriten, einer Wüste aus Ramsch-Immobilien, Rezessions-Reservat und weitgehend verrottete Zivilisation. „Die Wahrheit ist Finsternis, und es kommt einzig und allein darauf an, ein Statement abzugeben, bevor man in sie eintritt. Die Haut der Welt aufzuschlitzen und eine Narbe zu hinterlassen.“ Leider hat diese kluge Einsicht: ein Irrer mit sehr viel Sprengstoff im Keller.
Kleine Weltrettungsgemeinschaft
Es ist gewiss nicht das größte Werk des Meisters, aber nach ein paar halbgaren Romanen, doch ein richtiger King für Fans. Sie erkennen es schon an jenem aufrechten Trupp, der in seiner herzigen Bremerstadtmusikantenhaftigkeit zu den bewährten Säulen der King-Erfolge zählt. Als wäre ein dicker Polizeirentner nicht genug, eskortieren ein schwarzer Knabe mit Harvard-Ambitionen und eine welke Autistin die kleine Weltrettungsgemeinschaft. „Denn wo das Strenge mit dem Zarten, wo Starkes sich und Mildes paarten...“ Wieder Schiller -- und doch auch King. Kühne nennen beide Klassiker.
Stephen King: Mr. Mercedes. Aus dem Amerik. von Bernhard Kleinschmidt. Heyne, 591 S., 22,99 €. E-Book 18,99 €
Das Hörbuch liest David Nathan: Random House Audio, ca 990 Min, 19,99 €