Essen. Timm Rautert ist einer der größten deutschen Fotografen der Gegenwart. Das Essener Museum Folkwang widmet seinem Lebenswerk nun eine Ausstellung.

Es war 1979, als er in Berlin am offenen Grab von Rudi Dutschke stand: „Ich wollte immer die Welt verändern, mit Fotografie“, erinnert sich Timm Rautert – „aber in diesem Moment habe ich eingesehen: Es geht nicht. Da war Schluss.“ Nachdem Rautert von diesem Moment erzählt, hält er kurz inne und sagt: „Ja, warum soll man nicht mal ein bisschen pathetisch werden?“

Er ist ja nicht nur einer der größten deutschen Fotografen der Gegenwart, dem das Museum Folkwang nun, anlässlich seines 80. Geburtstags im September, eine Ausstellung zum Lebenswerk widmet: „Die Leben der Fotografie“. Er ist vor allem, von Anfang an und wieder und wieder, ein denkender Fotograf. Der vielleicht nicht immer genau weiß, was er da tut – es aber unbedingt wissen will. Und ergründet. Die Ausstellung ist die Essenz eines Mannes, der in den vergangenen 55 Jahren hinter der Kamera und auch sonst viele Perspektiven eingenommen hat. Als Bildjournalist und Hochschullehrer, als Chronist einer sich wandelnden Arbeitswelt und immer auch Grundlagenforscher in eigener Sache, der die Bedingungen seines Mediums schon früh hinterfragt und in den vergangenen Jahren immer wieder neu ausgeleuchtet hat.

Meisterschüler der Folkwang-Legende Otto Steinert

Als er sich an der Folkwang-Schule in Essen-Werden zum Fotografen ausbilden lässt, ist Timm Rautert 25 Jahre alt und fertig ausgebildeter Plakat- und Dekorationsmaler. Er gehört zu den Meisterschülern der Folkwang-Legende Otto Steinert, der eine Reihe von Aufgaben stellt. Student Rautert notierte brav „ab 1. Oktober 1966“ auf einem großen Karton: „Industriereportage, Solarisation, Negativdruck Bildnerische Variationsreihe, 24-Stunden-Thema, Auslandsreportage…“. Als ihn Steinert während des Studiums zu strengen Schwarz-Weiß-Exerzitien mit Münzen und Wassergläsern antreibt, schert er auch mal aus – und beendet sein Studium trotzdem mit Auszeichnung und Folkwang-Preis: „Ich war mehr daran interessiert, das Leben zu fotografieren.“

Das Leben findet direkt vor der Haustür statt, wenn Rautert die Not junger Psychiatrie-Patienten in Block 5 dokumentiert, das Thema „Obdachlos durch Wohnungsnot“ beleuchtet oder als einer der ersten die Folgen von Contergan fotografiert. Es ist die hohe Zeit des Printjournalismus.

Timm Rautert ist ein Wanderer zwischen den Welten und Zeiten

Rauterts Blick in den Tokaido Express in Tokio – er war zur Weltausstellung nach Osaka gefahren.
Rauterts Blick in den Tokaido Express in Tokio – er war zur Weltausstellung nach Osaka gefahren. © Museum Folkwang, Essen | Timm Rautert

Rautert fotografiert für Geo, den Stern und das Zeit-Magazin, er begleitet Mitte der 70er-Jahre einen türkischen „Gastarbeiter“ auf dem sommerlichen Heimweg nach Anatolien, er dokumentiert den unerbittlichen Drill der Waganowa Ballettakademie und begleitet die Berliner Philharmoniker in einem Langzeitprojekt. Ein Wanderer zwischen den Welten und Zeiten. Rautert zeigt das Aufeinandertreffen von Tradition und Hightech, wenn er Geishas in der U-Bahn von Osaka fotografiert und auf einer seiner vielen Reportage-Reisen 1974 mit „The Amish“ das Leben der verschlossenen amerikanischen Glaubensgemeinschaft in umwerfend intensiven Schwarz-Weiß-Bildern, trotz Fotografier-Verbots. Er fährt auch zu den Hutterern, hält die Schwerarbeit eines 12-jährigen Funkenmariechens fest….

Seine Serien sind sozialdokumentarische Studien mit Auftrag, aber immer auch Ausdruck künstlerischer Autonomie und Kommentierung. Rautert glaubt an den emanzipierten Betrachter, die Macht des „zweiten Blicks“. Aber irgendwann wird ihm doch klar, dass auch seine Sozialreportagen letztlich mit zum großen „Weltunterhaltungsprogramm“ gehören, wie er das nennt.

Bilder, die von Schwarz nach Weiß immer grauer werden

Schon am Ende seines Studiums hatte er mit seiner „bildanalytischen Fotografie“ begonnen: sich selbst beim Fotografieren fotografiert, Filme mit nichts als Licht belichtet, so dass die Bilder von Schwarz nach Weiß immer grauer werden, dieselbe Situation aus zwei komplett verschiedenen Blickwinkeln mit fast gegensätzlicher Bildstimmung und Aussage und -stimmung fotografiert, die Kamera bei ein und demselben Motiv mal auf den Kopf gedreht, mal nicht.

Das sollte seine Diplomarbeit werden. Aber Steinert, der ein extrem bestimmter Lehrer war („Rautert, Du bist begabt, aber faul!“) redet es ihm aus. Er mag geahnt haben, dass das Thema zu groß war, Rautert liefert mit der Serie „Television“ allemal schon eine kritische Ergründung des noch jungen Mediums Fernsehen. Die Serie der bildanalytischen Fotografie schließt er tatsächlich erst 1974 ab – und genau genommen hat er sie nie beendet: Fotografieforschung mit Mitteln der Fotografie treibt Rautert bis auf den heutigen Tag, wieder und wieder und wieder.

Timm Rautert verlegte sich von Reportagen auf Industriefotografie

1979, nach dem Begräbnis von Rudi Dutschke, war natürlich nicht wirklich Schluss mit dem Fotografieren. Denn geblieben ist Timm Rautert die Neugier. Er verlegt sich von Reportagen auf Industriefotografie, „mir wurde wichtig, das zu fotografieren, was auf uns zukommt“, sagt er im Gespräch und zeigt auf die erste Roboterstraße bei Daimler-Benz. Oder bei Porsche. 1968, 1992, 2006 hat er hier fotografiert: In der ersten, noch schwarz-weißen Serie sind 50 Arbeiter auf einem Bild, in der letzten, farbigen ist es noch einer.

Geniale Studienarbeit: Variationsreihe, 1967.
Geniale Studienarbeit: Variationsreihe, 1967. © museum folkwang essen | Timm Rautert

Anfang der 90er-Jahre kommt das Angebot der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, mit dem Timm Rautert Fotografie-Professor wird, um es bis zur Pensionierung 2006 zu bleiben. Von seinem Lehrer Steinert übernimmt Rautert nur das Konsequente, bei ihm dürfen die Studierenden alles, sie müssen es nur gut begründen können, so dass ihr Professor es versteht. Auch Steinert, der selbst prinzipiell nur schwarz-weiß fotografierte, ließ bereits Mitte der 60er-Jahre ein Farb-Labor anschaffen, „eine Stunde dauerte das in absoluter Dunkelheit, nicht mal mit Rotlicht, bis man den Abzug durch verschiedene Bäder gezogen hatte“, erinnert sich Rautert, „und erst am Ende sah man, ob es überhaupt etwas geworden war, da war absolute Konzentration erforderlich, Musik hat da keiner in der Dunkelkammer gehört.“

Timm Rautert: „Das Digitale würde ich nicht mehr Fotografie nennen“

Professor Rautert wiederum lässt seine Studierenden zur Digitalkamera greifen, wenn sie das wollten, obwohl er selbst prinzipiell nur analog, mit Film und Dunkelkammer fotografiert: „Das Digitale würde ich nicht mehr Fotografie nennen. Fotografieren ist das Aufzeichnungsverfahren, in dem ein Mensch das Licht misst und die Belichtung macht. Das geht im Digitalen automatisch, da macht keiner mehr was. Das Digitale trägt zur Geschwätzigkeit bei. Die analoge Fotografie kann uns besser beim Leben zusehen, sie erahnt mehr über die Möglichkeiten und Bezüglichkeiten des Lebens. Als ich die ersten numerisch gesteuerten Werkzeugmaschinen gesehen habe, habe ich die Zeitenwende des Digitalen schon gesehen und begriffen.“

Legendäres Porträt von Andy Warhol - und Pina Bausch, Wolf Biermann...

Schon in seinem dritten Studienjahr war Rautert nach New York gegangen und hatte seine längst legendäre Augen-zu-Aufnahme von Andy Warhol im Aufzug gemacht. In der Ausstellung ist sie Teil einer großangelegten Portraitwand mit Bildern von Pina Bausch bis Wolf Biermann, von A.R. Penck bis Nam June Paik. Um die Ecke, fast versteckt, widmet ihm das Folkwang eine kleine Reihe von Selbstporträts. Bilder von einem, der selbst fast immer unsichtbar bleibt und doch zu den prägendsten deutschen Fotografen der Gegenwart gehört.

Am Ende der Folkwang-Ausstellung wartet der Arbeitstisch

Ganz am Ende der grandiosen Folkwang-Ausstellung, die auch viele seiner Experimente mit Fotos, (Tesa-)Film und Licht zeigt, wartet ein Raum, der so etwas wie einen fantasierten, rätselvollen Foto-Roman im Charme des Verfalls von Venedig erzählt, mit Rauterts eigenem Arbeitstisch und -stuhl.

Warum er sich eigentlich immer wieder gänzlich neue Sachen rund um die Kamera überlegt, mag man sich da vielleicht fragen. „Ich habe so eine gewisse Nervosität, seit ich mit drei Jahren auf der Flucht war“, sagt da der große Fotograf, der 1941 im westpreußischen Tuchel zur Welt kam, „ich höre manchmal nachts noch die Schüsse. Vielleicht muss es deshalb immer wieder losgehen.“