Essen. Neuer Sündenbock für ein altes Thema: In der Corona-Pandemie wird der Bildungsnotstand ausgerufen. Die Misere aber ist viel älter.

Das Virus hat einem alten Wort zu unfreiwilliger Konjunktur verholfen. „Bildungsnotstand“, sagen die einen. „Bildungskatastrophe“, die anderen. Pathetischer – eigentlich ein schöner Mehrteiler für Guido Knopp – wollen dritte bereits „Die verlorene Generation“ ausgemacht haben. Und dies schon ein paar Monate nach dem Ausbruch von Covid-19. Kann das jemand ernsthaft seriös behaupten?

Was solche Stimmen vielfach eint: Sie nehmen (Vorsatz oder Ignoranz?) eine seit Jahrzehnten schwelende Erkrankung unserer Gesellschaft in unangebrachte Sippenhaft mit einem Erreger aus Wuhan. Gewiss: das Scheitern des Lernens daheim, die klaffende Schere zwischen Helikopter-Eltern und Verwahrlosungs-Erzeugern – traurig, aber doch alles andere als eine Überraschung. Mit Corona korrespondiert das Desaster allenfalls pauschal. Und mit dem Verfall von Bildung und dem nach ihr benannten System hat das nur in sehr kleinen Teilen zu tun.

Allgemeinbildung wird von Bildungspolitik wenig wertgeschätzt.

Was ist Wissen? Was Bildung? Die Kategorien, um ein schönes Dichterwort zu brauchen, sind bereits seit Jahrzehnten in der schändlichsten Verwirrung. Bildungspolitiker (der Öffentlichkeit von ihren Parteien zuverlässig als Experten präsentiert, was ein so wenig geschützter Beruf ist wie es lange Zeit der des Kammerjägers war) sagen lieber „Bildung“. Von ihr kann freilich nur in seltenen Fällen die Rede sein. Bildung ist nichts Äußerliches, rasch Abrufbares. Sie reift, wächst und ist nicht selten das überlegene Gegenteil mechanischer Nützlichkeit.

Gerade Bildung muss zwangsläufig als lästiger Ballast empfunden werden von jenen, die in Schulabsolventen kaum mehr sehen als einen funktionierendes Passepartout für wirtschaftlichen Erfolg. Mit Corona hat das nichts zu tun. Dazu passt eine wenige Wochen alte Episode: Eine Hochschul-Dozentin (!), die Material für werdende Lehrer erstellt, ruft einen Karikaturisten wegen einer von ihr ausgewählten Zeichnung an. Diese zeigt: Europa mit dem Stier. Eine Frage hat die Dame allerdings noch: Was denn „die Kuh neben dieser Frau“ solle? Beim Zeus!, was soll man da antworten, ohne grob zu werden? Mit Corona hat das nichts zu tun.

Covid-19 muss herhalten für eine viel größere Krise unseres Bildungssystems

Warum sollte es anders sein? Bildungspolitiker postulieren seit Jahren eine Form schulischer Leistung, die passen muss wie ein Chip in den Einkaufswagen. Schüler sollen vor allem „fit“ sein, konkurrenzfähig wie eine Maschine, die man auf dem Weltmarkt absetzt. Abstrakte Begabungen, geistige Ziele der Menschwerdung kommen in solchen Konstrukten gar nicht erst vor. Allenfalls in optimistischen Ghetto-Ideen wie der bemühten Aktion, jedem Kind ein Instrument in die Hand zu drücken. Ob es damit etwas anfangen kann oder nicht.

Dass bei uns „Kompetenzraster Bildung ersetzen“, hat der emeritierte Bochumer Germanist Harro Müller-Michaels deutschen Gymnasien 2019 attestiert. In einem Beitrag für „Forschung & Lehre“ sah er den „selbstständigen Zugang zu den Sachen“ und eigene „kreative Lösungen“ durch die deutsche Bildungspolitik in den Oberstufen verbaut. Dieses Bundesland hat nicht wenig dazu beigetragen, dass Ausbilder und Universitäten seit Jahren an den Folgen verzweifeln. Wer erst in der Corona-Pandemie den plötzlich aufgetauchten Totengräber eines zuvor prachtvoll funktionierenden Bildungsapparates ausmacht, lügt sich in die Tasche.

Anforderungen, sinkend. Seit langer Zeit müssen Lehrer ihre Forderungen anpassen

Das Wort Katastrophe hätten Politiker im letzten Vierteljahrhundert täglich dem wirklichen Leben ablauschen können. Sie wären erfahrenen Lehrern begegnet, die über Jahre permanent die Anforderungen nach unten senkten – auf Druck von oben. Sie hätten Professoren getroffen, die das ganze Exzellenz-Gequatsche allzu gern gelassen hätten, um darauf zu verweisen, dass ein Abitur nicht mehr zwangsläufig für Hochschulreife steht. „Eine studentische Hausarbeit ohne reichlich Rechtschreibfehler ist inzwischen die Ausnahme“: O-Ton einer westfälischen Hochschullehrerin gegenüber dem Autor dieses Textes im frühen Februar 2021. Und: „So unselbstständig wie heute habe ich Studentinnen und Studenten nie erlebt.“ Ihre Uni sollen wir aber, bitte, nicht namentlich nennen, dann habe sie „wieder den Rektor am Hals“.

Wir könnten der Dame noch Ausbilder in Betrieben der Region zur Seite stellen, die seit Jahrenverzweifeln an Rechtschreibung und Rechenkünsten ihrer Bewerber. Corona? Kommt in solchen Gleichungen nicht mal als Unbekannte vor.

Was ist da passiert, dass die Generation unserer Eltern oder Großeltern mit gerade einmal acht Jahren Volksschule eine ganz respektable Orthografie hatte und lebenslang die nützliche Fähigkeit besaß, im Kopf rechnen zu können?

Wer einen Bildungsnotstand angesichts von ein paar Monaten Schulschließung ausruft, hat Jahrzehnte lang weggeschaut. In dieser Zeit hat Bildungspolitik uns dauergestresste Schüler beschert. Und die Lehrer? Aus Gründen, für die Politiker nur indirekt verantwortlich waren, traten immer mehr von ihnen zusätzliche Ämter an: Sie wurden Psychotherapeut, Experten in Gewaltprävention, Elternersatz.. Aber welcher Politiker vernahm solch fundamentale Verschiebungen?

Missverständnis Medienkompetenz: Lesen und Schreiben geht nicht immer vor PC-Fitness

Als der frischgebackene Ministerpräsident Wolfgang Clement 1998 als Erbe von Johannes Rau durch die Redaktionen tingelte, brachte er Mal für Mal ein Zauberwort seiner Schulpolitik mit: Medienkompetenz! Mit Medien meinte Clement: Computer. Für jedes Kind. Diese kamen dann zwar auch nicht, aber sprechender für die rhetorische Nebelkerze war die Tatsache, dass bei der Wunderwaffe Medienkompetenz von Lesen und Schreiben überhaupt nicht mehr die Rede war.

Wann fing das an? Als Bildungspolitiker den Spaß am Versuchstier Kind entdeckten? Mal mussten Kindergartenbesucher absolut Sinnloses nachplappern („Pituski“), um in die Schule zu dürfen (Delfin4), mal schrieben sie nach Gehör, was nicht ganz so gelang wie Kochen nach Geschmack. Alles am lebenden Menschlein ausprobiert. Mit Corona hat das nichts zu tun.

Wir könnten noch Dutzende desaströser Strukturen auffächern. Wir könnten fragen, warum in den immer neuen Heilsversprechungen der Bildungspolitik die Sünden der Eltern kaum vorkommen (weil es Wähler sind?). Und warum Bildungsministerposten bei Regierungsbildungen als vorletzte verhandelt werden. Als letztes kommt Entwicklungshilfe. Mit Corona hat auch das nichts zu tun.

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EIN THEMA, SCHON VOR 55 JAHREN

Es ist fast sechs Jahrzehnte her, da alarmierte der Begriff „Bildungsnotstand“ die Bundesrepublik. 1965 erreichte die Debatte ihren Höhepunkt. Franz-Josef Strauß nannte die These von der Bildung in Gefahr „saudummes Geschwätz“.

In die Welt gebracht hatte das Thema der Pädagoge und Internatsleiter Georg Picht. Er prangerte damals u. a. zu geringe Ausgaben für Bildung an. Picht attackierte Bundeskanzler (Erhard) und -präsident (Lübke) scharf. Dem „Spiegel“ sagt Picht: „Die bildungspolitische Vernunft wird um so geringer, je höher die Sprosse auf der Stufenleiter Eltern, Lehrer, Funktionäre der Verbände Politiker der Länder, Politiker im Bundestag, Bundesregierung ist.“