Essen. Chick Corea erfand sich und seine Musik unermüdlich neu. Der Dauergast des Klavier-Festivals Ruhr erlag mit 79 Jahren einem Krebsleiden.

Als Chick Corea 1972 bei einem Jazz-Festival in München gastierte, fragte dessen Chef bei den versammelten Bands rum, wer denn wohl noch bei der abschließenden Jam-Session mitjazzen wollte. Chick Corea, schon damals ein Tastenriese, der mit Stan Getz, Herbie Mann und Anthony Braxton auf der Bühne gestanden hatte und mit Miles Davis Meilenstein-Alben wie „Bitches Brew“ eingespielt, meldete sich sofort. Der Vibraphonist Gary Burton auch. Doch sie blieben die einzigen. Legten aber einen derart umwerfenden Auftritt hin, dass die Münchner Produzentenlegende Manfred Eicher von ECM gleich eine Platte mit ihnen aufnehmen wollte. „Hm, eine ganze Stunde nur Klavier und Vibraphon“, argwöhnten die beiden, „ob das die Leute hören wollen?“ Und ob sie wollten! „Crystal Silence“ wurde ein Kult-Album, mit geradezu pop-haften Verkaufszahlen.

So etwas war typisch für den 1941 an der Ostküste der USA geborenen Anthony Armando Corea, einen der größten Pianisten des jüngeren Jazz, den sie schon früh „Chick“ nannten, weil er bei so vielem der Jüngste, das „Küken“ war. Neugierig, spielfreudig, ja bedenkenlos waghalsig und auf eigene Weise elegant sollte er bis ins Alter bleiben – nun aber ist der geniale Pianist und Komponist bereits am Dienstag einer seltenen, erst vor Kurzem diagnostizierten Krebserkrankung erlegen.

Früh mit Stan Getz und Dizzy Gillespie, dann zu Miles Davis

Corea hatte als Sohn eines Trompeters und Bassisten bereits mit vier Jahren am Klavier gesessen, spielte in jungen Jahren mit Legenden wie Stan Getz und Dizzy Gillespie, bis der große Miles Davis ihn für seine Band verpflichtete und dafür auf Herbie Hancock verzichtete.

Vom Trompeten-Gott emanzipierte sich Corea bald und öffnete Ende der 60er-Jahre die Pforten für die Fusion genannte Mischung aus Jazz und Rock, für die er einer der Haupt-Protagonisten blieb. Überhaupt: Chick Corea war zu vielseitig und zu spielfreudig, als dass er sich auf ein einziges Genre beschränkt hätte. Seinen heftigen Flirts mit Latino-Sounds verdankt sich sein Welt-Hit „Spain“, aber auch ein Erfolg wie „Fiesta“. Seine „Children Songs“ wiederum wirken so simpel und sind doch so reich an feinen Details. Corea liebte auch Klassik, Mozart zumal, spielte dessen Klavierkonzerte und ließ sich davon anregen, ein eigenes zu komponieren.

Scientology-Anhänger, Hommagen an Mozart und Béla Bartók

Auf seinen zahllosen Konzerten versteckte er schonmal Percussion-Instrumente im Kasten seines Flügels oder debütierte an der Marimba, der „perfekten Verbindung aus Klavier und Percussion,“ wie er sagte. Noch im vergangenen Jahr arbeitete der seltsamer Weise überzeugte Scientology-Anhänger an einer Hommage an den Moderne-Komponisten Béla Bartók, die live in Budapest aufgeführt werden sollte, was aber an Corona scheiterte. Er begann daraufhin sein Klavierspiel live über Facebook zu übertragen.

Und als er 2018 zum 16. Mal beim Klavier-Festival Ruhr gastierte, trat er mit einem Smartphone auf die Bühne der Essener Philharmonie und filmte das Publikum – das am Ende, wie fast immer, im Chor sein ewiges, „Spain“ mitsang.

Return To Foerver, Origin und The Vigil, BobbyMcFerrin und Herbie Hancock

Aber echte Wiederholungen gab es mit dem Lockenkopf auch beim Klavier-Festival, dessen Ehrenpreis er 2006 erhielt, nie: mal kam er als Trio mit der Rhythmusgruppe seiner Band alten Band Origin, mal der Neugründung The Vigil, mal dem Vibraphon-Feger Gary Burton, den er mit eigener Zurückhaltung so richtig glänzen ließ, mal mit dem Stimmwunder Bobby McFerrin (da gab Corea in der Grugahalle den Tastenclown, trieb Nonsens mit großer Souveränität und lachte fast so viel wie er spielte), zum Jazzpianisten-Gipfel mit Herbie Hancock (beide bereits in der Mitte ihres achten Lebensjahrzehnts, ließen sie doch ihre Fingerspitzen quecksilbrig über die Tasten hasten) oder zum Revival mit der Fusion-Supergruppe Return o Forever mit Al Di Meola, Stanley Clarke und Lenny White.

Schier unerreicht wird wohl noch lange Chic Coreas Mit-Spielfreude bleiben, die ihn mit Heerscharen von Spitzenmusikern verband. Von seinen „tollen Musikerfreunden“, die „eine Familie“ für ihn gewesen seien, verabschiedete sich Corea auf Facebook mit den Worten: „Es war ein Segen und eine Ehre, von euch allen zu lernen und mit euch zu spielen. Meine Mission war es immer, Freude zu bringen, überall zu kreieren, wo ich konnte. Dies mit all den Künstlern getan zu haben, die ich so sehr bewundere – das war der Reichtum meines Lebens.“