Essen. „Immer auf dem Teppich bleiben“ heißt die Autobiografie von Dieter Kosslick. Hier spricht der frühere Berlinale-Chef über die Zukunft des Kinos.

18 Jahre lang war Dieter Kosslick (72) der Direktor der Berlinale, neben Cannes und Venedig das weltweit bedeutendste Filmfestival. Vor zwei Jahren fiel für ihn die letzte Klappe am Roten Teppich. In seiner Autobiografie „Immer auf dem Teppich bleiben“ blickt Dieter Kosslick auf seine Zeit bei der Filmstiftung NRW zurück, plaudert aus dem Nähkästchen der Berlinale und fordert eine Erneuerung des Kinos im Zeichen der Pandemie. Mit dem einstigen Berlinale-Chef sprach Dieter Oßwald.

Herr Kosslick, hatten Sie nach dem Abschied von der Berlinale ähnliche Rentner-Probleme wie Loriot einst in „Pappa ante Portas“?

Kosslick: Tatsächlich gab es unlängst ein „Pappa ante Portas“-Erlebnis in einem Großmarkt. Mit unglaublich vielen Küchentücher-Rollen im Einkaufswagen fiel mir plötzlich Loriot ein, worauf ich alles wieder zurück ins Regal stellte. Abgesehen davon gab es kein Rentner-Loch. Die letzten zwei Jahre habe ich mich mit dem Buch beschäftigt, für mich ein intensiver Prozess, mit 18 Jahren Berlinale sowie 35 Jahren Filmgeschäft abzuschließen.

Um bei Loriot zu bleiben: Gab es keine Pläne für eine Herren-Boutique in Wuppertal? Alternativ für einen Bagel-Laden in Pforzheim, wo Sie Ihrer Backleidenschaft frönen könnten?

Herren-Boutique wäre nicht ganz mein Fall, das Backen schon eher. In dem Dorf, aus dem ich stamme und das im Buch gewürdigt wird, gibt es einen Back-Club, bei dem ich mitmache. Das erste Brot aus Kastanienmehl und Sauerteig habe ich bereits verputzt. Auch in Berlin, in meiner geschätzten Markthalle Neun, gibt es eine schwäbische Konditorei, bei der ich künftig vielleicht ein bisschen backe.

Gleichwohl bleiben Sie dem Film treu. Sie sind Jury-Chef beim Carl Laemmle-Preis für Produzenten und Berater für Festivals...

Carl Laemmle ist natürlich Ehrensache für mich. Als Berater bin ich für ein neuartiges Filmfestival in Potsdam dabei, bei dem Ökologie eine große Rolle spielen soll. Dafür möchte gerne ich meine Erfahrungen ein bisschen beisteuern.

Waren Sie als Besucher voriges Jahr auf der Berlinale?

Nein, zu dieser Zeit war ich in meinem Fasten-Hotel in Bayern und habe zehn Kilo abgenommen. An einem Fahrkartenautomaten in Bayrischzell wurde ich von zwei netten, älteren Damen aus Leipzig angesprochen: „Sie haben das bestimmt schon öfter gehört: Sie sehen aus wie Dieter Kosslick.“ So hatte ich also ein bisschen Berlinale-Feeling, mitten im tiefsten Bayern.

Was ist Ihre Anliegen mit dem „Teppich“-Buch?

Ich wollte zum einen einige Berlinale-Geschichten erzählen, allerdings mit Augenmaß: Es soll schließlich kein Witzbuch werden. Zum anderen geht es um ganz aktuellen Fragen in Zeiten von Corona: Wie steht es um die Zukunft der Kinos? Welche Rolle werden Streaming-Anbieter spielen? Das dritte Kapitel handelt von Fragen der Ökologie: Mit Greta ins Kino als wichtige Perspektive einer künftigen Filmindustrie.

Als Ihr Vorgänger Moritz de Hadeln vor drei Jahren eine Autobiografie vorlegte, fragten manchen, wer das lesen solle. Wen haben Sie als Zielpublikum im Kopf?

Das Buch soll auf verständliche Weise einen Blick öffnen, wie es hinter den Kulissen eines der weltweit größten Filmfestivals zugeht. Wer sich für Kino und Film interessiert, wird hoffentlich auf ein paar spannende Geschichten treffen sowie anregende Gedanken finden über Filmpolitik und unsere cineastische Zukunft.

Sie erzählen im Buch von Ihrer verblüffenden ersten Begegnung mit Clint Eastwood oder wie die Abreise der lärmempfindlichen Rolling Stones durch Bestechung von Bauarbeitern verhindert werden konnte. Welches ist Ihr persönlich schönstes Berlinale-Geheimnisse, das offenbart wird?

Für mich ist es vielleicht die Geschichte, weshalb es vier Jahre gedauert hat, bis Meryl Streep endlich die Jury-Präsidentin der Berlinale geworden ist. Ohnehin dürfte das Kapitel Jury-Vorsitzende vermutlich für einiges Staunen und Heiterkeit sorgen.

Gibt es Dinge, die gleichwohl noch top secret sind?

Natürlich gibt es Dinge, die man nicht ausposaunen sollte, zumal wenn es um Privates geht. Wenngleich man Leute und Vorgänge mit Namen benennt, bedarf es der Behutsamkeit. Wer aus dem Nähkästchen plaudert, braucht schwäbische Diskretion: Kehrwoche mit der Federboa gewissermaßen. Mir war es wichtig, niemanden bloßzustellen oder vorzuführen. Insofern wird James Cameron sicher nicht böse sein, wenn ich erzähle, wie es bei einem vegetarischen Essen bei ihm so zuging.

Worauf sind Sie am meisten stolz in Ihren 18 Jahren Berlinale-Regentschaft?

Stolz bin ich darauf, wie sehr sich die Berlinale zu einem solch großen Publikumsfestival entwickelt hat. 330.000 verkaufte Kinokarten und rund eine halbe Million Zuschauer sind mit Abstand einzigartig. Dazu braucht es eine gute Organisation sowie ein vielfältiges Programm, um die verschiedenen Zielgruppen, insbesondere Kinder und Jugendliche, zu erreichen. Die Berlinale hat Kino zelebriert, das war für mich das Wichtigste. Die Zukunft des Kinos wird davon abhängen, ob und wie man die Menschen dafür begeistern kann. Für eine Familie mit zwei Kindern ist ein Netflix-Abo viel billiger als Kinokarten. Deswegen muss Kino mit seiner Magie die Leute überzeugen.

Sie bezeichnen die künftig notwendige Magie des Kinos als „Thursday for Future“, weil donnerstags die neuen Filme anlaufen. Ist das nicht ein bisschen Pfeifen im Wald und Zweckoptimismus?

Es muss radikale Änderungen geben beim Kino, man kann Streaming-Anbieter nicht mehr ignorieren. Wichtig wäre, junge Leute im Lehrplan zu ermuntern, jede Woche einmal ins Kino zu gehen und zu lernen, Filme auf der großen Leinwand zu sehen. Dazu braucht es neue, qualitative Konzepte, die Lust auf Kinobesuche machen. Auf ungesunde Süßigkeiten und überteuerte Getränke kann man verzichten, der ganze Müll im Kinosaal lässt sich vermeiden.

Die Zeiten, Netflix und Co. als Buhmann zu behandeln sind längst Geschichte. Wie sieht die Zukunft aus?

Die Pandemie hat etwas beschleunigt, was sonst vielleicht viel länger gedauert hätte. Vor zwei Jahren wurde bei der Berlinale auf dem Roten Teppich noch gegen Netflix demonstriert. Heute macht das überhaupt keinen Sinn. Die Streaminganbieter sitzen mit im Boot, auch in der Filmförderanstalt. Man wird sich arrangieren müssen, um gemeinsam ein Konzept zu finden, wovon das Kino profitieren kann.

Sie waren vor der Berlinale in der Förderung tätig. Was ist Ihr größter Erfolg bei der Filmstiftung NRW?

Wir haben mit der Filmstiftung dazu beigetragen, dass NRW zum großen Medienland geworden ist und konnten mit guten Filmen viele Arbeitsplätze schaffen. Dabei wurden nicht nur Filme gefördert, sondern auch die Kinos und der Nachwuchs mit einer internationalen Filmschule. Von der Kohle zum Film und dann mit Film Kohle zu machen war ein Motto, dass die Filmstiftung erfolgreich umgesetzt hat.

Schreiben Ihnen Clooney und Streep noch Weihnachtskarten? Oder gilt man auch in dieser Branche flott als „Lame Duck“, als „Lahme Ente“?

Weihnachtskarten waren noch nie mein Ding, als „Lame Duck“ fühle ich mich allerdings nicht. Mit einigen Berlinale-Gästen bin ich durchaus noch in Kontakt. Wobei ich schon früher bei Reisen nach Los Angeles nie Nicole Kidman anrief, um zu fragen, ob sie Lust auf einen Kaffee habe.

Wenn der „Teppich“ verfilmt würde, mit wem und auf welchem Festival sollte er laufen?

Mein Lieblingsschauspieler wäre Roberto Benigni, da müsste man nicht allzu viel in der Maske machen. Anbieten würde sich Locarno im Nachtprogramm, wo traditionell Witziges läuft. Spaß beiseite: Es ist in diesem Jahr eine Kinotour mit dem Buch geplant. Da wird erst ein Berlinale-Film gezeigt, anschließend aus dem Buch gelesen und danach darüber geplaudert.