Essen. Der letzte lebende Bee Gee hat Angst, dass man seine Lieder vergisst. Mit dem neuen Album „Greenfields“ dürfte das kaum eintreten

Die Mähne ist immer noch Mähne, aber grau. 74 Jahre ist Barry Gibb alt und macht keine Anstalten zu Kaschierungsmätzchen. Gibb hat im vergangenen Jahr Goldene Hochzeit gefeiert, er hat fünf längst erwachsene Kinder und acht Enkel. Seit 1974 lebt der bei Manchester und in Australien aufgewachsene Brite in Miami, das imposante Anwesen gehört ihm genauso wie der Strand.

Laut „Guiness-Buch der Rekorde“ ist Barry Gibb der zweiterfolgreichste Songwriter hinter Paul McCartney, mit den Bee Gees hat er 200 Millionen Alben verkauft, vielleicht auch mehr. Aber Barry Gibb will vom Ruhestand nichts (mehr) wissen. Der älteste der Bee-Gees-Brüder ist der letzte überlebende und will die Fäden des immensen musikalischen Vermächtnisses in der Hand behalten.

Dokumentation auf Streaming-Plattformen

Mit gleich zwei neuen Projekten steht Barry Gibb nun wieder im Fokus. Die Dokumentation „The Bee Gees: How Can You Mend A Broken Heart“ ist gerade auf diversen Streaming-Plattformen zu sehen und leuchtet beeindruckend die extremen Höhen und Tiefen aus, die Barry und seine Brüder durchlebt und durchlitten haben.

Als Teenager singen sie in australischen Bars, und als die Bee Gees dank Liedern wie „Massachusetts“ oder „To Love Somebody“ zu Weltruhm kommen, ist Barry immer noch ein junger Mann, gerade mal Anfang 20. Sie kaufen sich teure Autos und ein eigenes Flugzeug, drehen ein bisschen durch – auch das zeigt der Film. „Extremer Ruhm hat das Zeug, dich zu zerstören“, so Barry Gibb. Kein Wunder, dass gerade Michael Jackson sich zu dem zwölf Jahre älteren Gibb hingezogen, von ihm verstanden fühlte.

Der Rausch war gigantisch, der Kater monströs

Nach einem ersten Streit zwischen Barry und Robin darüber, wer der bessere Lead-Sänger sei, kommt in den frühen Siebzigern der erste Karriereeinbruch. Davon erholen sich die Gibb-Brüder ein paar Jahre im Triumph als exaltierte Helden des Disco-Booms mit weißen Anzügen, Kettchen und tiefergelegten Hemdöffnungen. Für den John-Travolta-Film „Saturday Night Fever“ liefern sie den Soundtrack und eines der meistverkauften Alben der Musikgeschichte. Die Bee Gees sind als Disco-Boys das Maß der Dinge.

Bis sie es nicht mehr sind. Gibb: „Der Rausch war gigantisch, der Kater monströs.“ Die reaktionäre, von Schwulenfeindlichkeit und Rassismus angetriebene Anti-Disco-Bewegung in den USA setzt dem Hoch ein Ende. Barry Gibb schreibt nun sehr erfolgreich für andere, und ab 1987 nehmen die Bee Gees mit „You Win Again“ karrieretechnisch wieder Fahrt auf.

Justin Timberlake, Mark Ronson und Noel Gallagher sind Riesenfans

Dann sterben Barrys Brüder. Der jüngste, Andy, erlag bereits 1988 mit 30 seiner Kokainsucht. 2003 überlebt Maurice mit 53 eine Darmoperation nicht, 2012 stirbt Robin an Krebs, er wurde 62. Barry Gibb sagt, er werde sich die Dokumentation nicht anschauen, „es ist zu schmerzhaft.“

Nach dem Ende der Bee Gees verfällt Gibb in Agonie und Depression. Frau und Kinder ermuntern ihn schließlich mit Erfolg, die Arbeit wieder aufzunehmen. Er tourt, veröffentlicht 2016 das Album „In The Now“, tritt 2017 beim Glastonbury-Festival auf. Justin Timberlake, Jimmy Fallon, Chris Martin, Mark Ronson oder Noel Gallagher sind Riesenfans.

Duette mit Olivia Newton-John, Dolly Parton, Keith Urban, Alison Krauss, Sheryl Crow

Sohn Stephen bringt ihn dann auf die Idee, die Hits im Country-Stil neu einzuspielen. Schlau. Die lieblich-liebevollen, eher gemächlichen Arrangements von Dave Cobb passen wunderbar zum gereiften Barry Gibb. Gesanglich trifft er auch mit Mitte 70 die Töne, überdies steht seinen Kompositionen diese unterschwellige Traurigkeit, die dem Country-Genre innewohnt, ganz hervorragend.

Und Gibb ist nicht allein auf „Greenfields: The Gibb Brothers Songbook, Vol. 1“, dessen Titel die Tür für weitere Ausgaben offenhält. Alte Weggefährtinnen wie Olivia Newton-John („Rest Your Love On Me“) oder Dolly Parton (gemeinsam singen sie eine wonnige, herrlich melancholische Version von „Words“) waren mit am Start, aber auch illustre Namen des jungen Country wie Brandi Carlile („Run To Me“) und Jason Isbell („Words Of A Fool“) oder Stars wie Keith Urban, Alison Krauss, Little Big Town und Sheryl Crow („How Can You Mend A Broken Heart“). „ Ich bin in allererster Linie Songwriter“, sagt Barry Gibb, „und Country ist das Genre, in dem Songs nach wie vor eine sehr hohe Bedeutung haben.“

Bei „Stayin’ Alive“ geraten die Leute immer noch ins Tanzen

Gibbs Sorge, dass seine zeitlosen Lieder eines Tages vergessen sein könnten, dürfte ohnehin unbegründet sein. Seine Tochter Alexandra, erzählte Gibb dem „Guardian“, habe ihm neulich berichtet, wie sie „Stayin‘ Alive“ bei offenem Fenster im Auto hörte – und die Leute am Straßenrand zu tanzen begannen: „Das macht mich das sehr zuversichtlich, dass unsere Musik unzerstörbar ist.“

Album „Greenfields: The Gibb Brothers Songbook, Vol. 1“ ab 8. Januar

Dokumentarfilm „The Bee Gees: How Can You Mend A Broken Heart“ unter anderem bei iTunes und Amazon Prime

Zudem ist ein Bee-Gees-Biopic geplant, mit Bradley Cooper aus „A Star Is Born“ in der Rolle des Barry Gibb.