Essen. Vor 100 Jahren wurde Friedrich Dürrenmatt geboren. Er sah die Niedertracht unseres Daseins - und machte aus unserer Teufelei Grotesken

Unter den vielen Künsten des Friedrich Dürrenmatt sei neben der Malerei, der Prosa und Dramatik die charmanteste nicht unterschlagen: uns immer dann zu entwischen, wenn wir glauben, zu wissen, wen wir vor uns haben.

Hören wir seine schräg schmetternde Klage-Tuba, streckt uns augenblicklich ein zotenreißender Harlekin die Zunge heraus. Verletzt uns die mörderische Schärfe seiner Menschenkenntnis, versöhnt er uns gleich wieder, als deftiger Entertainer. Nennen wir ihn einen Nihilisten, müssen wir ihm gleich darauf attestieren, felsenfest fest zu glauben: an das Böse, das für Dürrenmatt auf dieser Welt so sicher ist wie das Amen in der Kirche.

Ein (un-)gemütlicher Chronist aus dem Emmental

Galt also auch für ihn, den gemütlichen Emmentaler, dass frommste Elternhäuser (der Vater war Dorfpfarrer) zuverlässig Rebellenkinder hervorbringen? „Dass die interessanteste deutsche Bühnenfigur der Teufel ist“, beschäftigt ihn, 1921 geboren, ein Leben lang. Er wird ihn stets in Menschengestalt zeigen. Dafür muss einer wie er nicht die Welt bereisen, Dürrenmatt findet alles in seinem Heimatland, das der Umgebung jenes Irrenhauses ähnelt, in das er 1962 seine Physiker einweist: „blaue Gebirgszüge, human bewaldete Hügel und ein beträchtlicher See“. Hier findet er die dumpfen Mitmacher, die Tugendbolde, die heimlich Verlotterten und jene leutselige Kaltschnäuzigkeit der Hochfinanz, wie sie uns im unterschätzten Stück „Frank der Fünfte“ entgegentritt. „Sei’s hier, sei’s dort, sei’s anderswo / Setzt Namen, Daten, Länder nach Belieben ein/ Es stimmt ja leider sowieso.“ Die kleine Schweiz, ein Weltengleichnis.

Dürrenmatt, der als dreifacher Familienvater lange kämpft, ehe ihm „Der Besuch der alten Dame“ einen Welterfolg beschert, muss Themen nie suchen. „Ich mache aus Winzigkeiten etwas“, sagt er über „Der Tunnel“ – und fügt lächelnd hinzu: „Bei mir ist er der Eingang zur Hölle.“ Einmal sieht er aus einem noblen Schnellzug heraus verödete Kleinstadt-Bahnhöfe. Wie groß, denkt er, muss hier die Sehnsucht sein, dass jemand aussteigt. Er wird ihnen die alte Dame Claire Zachanassian schicken, eine milliardenschwere Rächerin mit Zielen: „die Welt machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell.“

Kritiker sehen Dürrenmatt mit Skepsis.Vor 100 Jahren wurde der Dramatiker geboren

Die Kritik hadert mit Dürrenmatts überrumpelndem Erfolgen. In einer Zeit, da Krimis („Der Richter und sein Henker“) kaum als ernstzunehmende Romane gelten, fasst mancher seine Stücke mit der Kneifzange an. Und irrt: „Ein Zeitstück“, das die Aktualität nicht überdauern wird, nennt Joachim Kaiser „Die Physiker“ – auf den Bühnen der Welt wird die Wissenschafts-Groteske das Urteil überleben. Freilich: Dürrenmatts Erfolge von „Romulus der Große“ oder „Play Strindberg“ ragen aus einem unendlich reicheren Werk hinaus. Sein Schaffen umfasst 29 Bände.

„Die Groteske ist unbequem, aber nötig“, sagt er über seine Arbeit – und bringt es als Dramentheoretiker mit seiner ideologiefreien Unverwechselbarkeit zum geflügelten Wort: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“

Mit Brecht sprach er über Zigarren, es war ihm so lieber

Dürrenmatt hat sich üppigst über sein Theater geäußert. Nur gegenüber Kollegen fand er das unangenehm. Als er Brecht vorgestellt wird, ist er heilfroh, als dieser auf Zigarren zu sprechen kommt: „Zu meiner Verwunderung war er der Meinung, die Brasil sei die stärkste. Dass die Havanna stärker ist, wollte er mir nicht glauben - dass ich in dieser Streitfrage recht hatte, musste ich im Laufe der Zeit teuer genug bezahlen: finanziell und gesundheitlich.“

Was ist geblieben vom Vielgesichtigen, der das Labyrinth der Mythen liebte? Geschichten, deren Katastrophe allein der Mensch ist. Wie schrecklich recht er behielt; als Dürrenmatt 1990 mit nur 69 Jahren nach einem sehr genussreichen Leben starb, hatte sich an seinen frühen Zeilen nichts geändert: „Anständigkeit, Anständigkeit / Traum des Lebens / Deiner harren wir vergebens.“

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TIPP FÜR EINE FABELHAFTE LESUNG

Blamabel: Keiner der großen deutschsprachigen Kultursender (3Sat, Arte) widmet dem Geburtstag Friedrich Dürrenmatts heute einen nennenswerten Beitrag.

Wir empfehlen zum Ehrentag, einer bitterbösen, aber auch kostbar witzigen Meister-Erzählung zu lauschen. Stefan Merki liest in schönstem Bärnerdüütsch die „Mondfinsternis“, Vorlage zum „Besuch der alten Dame“: www.mdr.de/kultur/duerrenmatt-mondfinsternis-100.html