Essen. Oskar Roehler verneigt sich im Film „Enfant Terrible“ vor Rainer Werner Fassbinder. Ein Gespräch über den Umgang mit Nostalgie und Unvernunft.

Schrill, wüst und provokativ: Wie einst Rainer Werner Fassbinder geht auch Regisseur Oskar Roehler in seinem Film über die Regielegende „dahin, wo es wehtut“. Sein Film „Enfant Terrible“ ist eine Verbeugung vor dem Regie-Berserker und Bürgerschreck, der in den 70er- und 80er- Jahren ein Star des Neuen Deutschen Films war – und eine Paraderolle für den fabelhaften Oliver Masucci. Fassbinder-Filme wie „Die Ehe der Maria Braun“ oder „Angst essen Seele auf“ waren Kult. Mittlerweile aber ist das Werk des Kino-Workaholic und Regie-Wüterichs etwas in Vergessenheit geraten. Roeh­ler hat für sein biografisches Porträt über Fassbinder viele Jahre gekämpft. Am Ende wurde „Enfant Terrible“ mit einem Bruchteil des geplanten Budgets in nur 24 Tagen gedreht. Das Ergebnis kommt dem Filmemacher Fassbinder genauso erstaunlich nahe wie auch dessen Ästhetik. Mit Martina Schürmann sprach Oskar Roehler über den Umgang mit der Nostalgie und den Reiz der Unvernunft.

Herr Roehler, viele Kritiker sehen ihn Ihnen schon lange den legitimen Nachfolger von Rainer Werner Fassbinder. Was hat Sie nun zu diesem Film über das Regie-Enfant-Terrible bewegt?

Roehler: Ich bin tatsächlich mit ihm aufgewachsen. Er ist ein Mensch aus meiner Zeit, aus der Zeit, in der ich Filmkunst kennengelernt habe. Das hat sicher auch was Nostalgisches. Und es hat damit zu tun, dass ich irgendwann dachte: Oh Gott, warum ist die Welt heute so rational, so hart, so vernünftig? Warum ist jeder so sehr auf Sicherheit bedacht? Deshalb ist Fassbinder für mich so ein Hero: Er war halt nicht auf seine Sicherheit bedacht.

Szene aus „Enfant Terrible“ mit Oliver Masucci als Rainer Werner Fassbinder.
Szene aus „Enfant Terrible“ mit Oliver Masucci als Rainer Werner Fassbinder. © Weltkino

Hätte jemand, der sich so gierig, so rücksichtslos ins Leben stürzt, in der Filmbranche denn heute überhaupt noch eine Chance?

Sicher nicht. Fassbinder lebte ja irgendwie in einem Kokon. Die Welt war trotz aller Abstriche – so konservativ und spießig das damals war – auf eine bestimmte Art in Ordnung. Weil sie noch ein Kontinuum darstellte. In diesem Schutz der BRD, wo alles abgesichert war bis hin zu den Filmfördergeldern, da konntest du dich auch leichter gehen lassen. Du wurdest du immer wieder aufgefangen. Er hat einen Film gedreht, der hat 100.000 Mark gekostet. Und ein anderer Produzent stand schon an der nächsten Ecke mit dem nächsten Scheck. Das war damals ein verdammtes Paradies. Der musste nicht fünf Jahre warten auf seine nächste Finanzierung. Da gab’s fünf Filmemacher, die Geld bekommen haben, und Fassbinder war einer davon. Und weil er am schnellsten war und am wenigsten brauchte, hat er auch am meisten gekriegt.

Als Fassbinder mit 37 Jahren starb, hatte er 44 Spielfilme gedreht, dazu Serien und Theaterstücke. Woher kam diese Arbeitswut?

Er hat sich durch seine Kunst ins Leben gestürzt. Das Filmemachen war sein Vehikel, um in Kommunikation mit anderen zu treten. Er war eigentlich ein sehr schüchterner, selbstbezogener, empfindlicher Charakter. Ich glaube, der einzige wirklich Zugang, den er zu anderen Menschen hatte, war der Regieberuf. Und es hatte auch was mit Ruhm zu tun. Wenn du in der Kindheit zurückgewiesen wirst, dann kommt dieser Größenwahn dazu, der dich immer weiter treibt.

Haben Sie noch andere Ursachen für das Berserkerhafte, Exzessive, Schonungslose gefunden?

Das Dominanzverhalten gründete sich auf seinem Schaffensdrang. Wenn du deinen Leuten jeden Monat ein Drehbuch rüberschieben kannst und daraus einen Film machst, in dem sie alle mitspielen können, dann bist du das Epizentrum, das Kraftzentrum, um das alle kreisen. Und wer dann nicht mitzieht, der wird halt bestraft, bedroht, unter Druck gesetzt. Oft waren das ja ganz pubertäre Unterdrückungsmechanismen. Ich erinnere mich an eine Geschichte von Udo Kier, den Fassbinder mal angeherrscht hat: „Du besorgst mir innerhalb von einer Stunde das Koks oder du wirst morgen zum Stiefelputzen abkommandiert und darfst nicht spielen.“ Das kann man ja gar nicht ernst nehmen. Das war eher ein Spiel, das sie alle mitgespielt haben. Neben dem Spiel gab es aber auch Erniedrigung, Manipulation, Abhängigkeit – bis zum Tod. Zwei Liebhaber Fassbinders haben sich umgebracht.

Geht es auch um Schuld?

Ich kann sowas moralisch nicht bewerten. Ich kann nur sagen: Der Künstler muss kein guter Mensch sein, eher im Gegenteil. Künstler sind geprägt von Defiziten, an denen sie sich abarbeiten. Daher sind sie auch nicht dazu angetan, gute Politiker zu sein. Ich glaube, als guter Politiker muss du auch ein guter Mensch sein. Da spielt Moral eine ganz andere Rolle, das ist die Realität. Was wir machen mit all unseren Sadismen und Masochismen, das ist ja ein Spiel. Da kann nichts passieren. So tragisch und traurig das ist, dass sich zwei seiner wichtigsten Männer umgebracht haben, das war nicht seine Schuld. Das war eine tragische Verquickung unglücklicher Umstände. Und wohl auch ein großes Missverständnis, was die Liebe betrifft und wie man Liebe formuliert.

„Enfant Terrible“ ist auch ein Stück Zeitgeschichte. Ein Ritt durch die 70er mit den Bars, den Treffs der Münchner Schwulenszene, deren Schummrigkeit die Filmbilder in ausgestellter Künstlichkeit zeigen. War das theatrale Setting eine bewusste Entscheidung oder dem schmalen Budget geschuldet?

Es war nötig, um sich von der Nostalgie und den Konventionen zu befreien, von denen alle denken, dass sie ein Film braucht. Die Leute sind ja so realitätsbesessen, dass sie bei Schauspielern nicht nur das gleiche Alter haben wollen, sondern auch noch das gleiche Aussehen. Aber da Fassbinder ein sehr theatralischer Regisseur war, der die Amplitude ziemlich hoch geschraubt hat, brauchte ich ja vor allem Schauspieler, die das umsetzen können. Eine Margit Carstensen oder eine Irm Hermann muss man erst mal spielen können. Ich brauchte Schauspieler, die das beherrschen, keine Filmnasen.

„Enfant Terrible“ war für die Filmfestspiele von Cannes ausgewählt, die dann wegen Corona ausgefallen sind. Wie gehen Sie damit um?

Das ist natürlich sehr schade, aber es bleibt eine große Ehre und Wertschätzung. Ich bin vor allem froh, dass ich in mit dem Film aus der sentimentalen Rückschau einer heilen BRD rausgekommen bin, die ich für mich ja durchaus apostrophiere als meine glückliche Jugend und Kindheit. Ich habe kein nostalgisches Werk geschaffen. Wenn ich allerdings ein Essay schreiben würde über diese Zeit, dann würde ich dieses heimelige Gefühl mit Genuss ausbreiten. Weil ich die Zeit auf eine gewisse Art ganz schön fand. Deshalb bin ich mittlerweile wohl auch selber als Spießer verschrien.