Essen. Konzertsaal dicht, Handy an?! Nie war so viel Klassik auf digitalen Kanälen unterwegs wie seit Corona. Was wird davon bleiben? Eine Einschätzung

Es war der 10. Juli dieses bewegten Jahres, da moderierte der Pianist Martin Stadtfeld in Herne das Finale des Klavierfestivals Ruhr recht meinungsfreudig an: „Streaming ist nicht das Wahre, wenigstens das haben wir jetzt alle aus dieser Zeit gelernt.“ Beifall. Das fühlte sich durchaus so an, als sein ein über die letzten Monate herbeigesungenes Medienwunder mal eben eingetütet worden.

Tatsächlich sollte Martin Stadtfelds Eindeutigkeit vor allem ein dankbares Kompliment an die Rückkehr zum Live-Erlebnis sein. Aber ihr Subtext war auch ein klares Contra zu jenen tausenden über digitale Kanäle verbreiteten Heimkonzerten, mit denen die Klassik-Szene seit dem Shutdown eine Mischung aus Hilferuf und Solidarität be- und vertont hatte.

Durch die Pandemie wurden Klassik-Stars auf ungewöhnlichen Kanälen sichtbar

Die Nachfrage war gar nicht mal schlecht, bisweilen hoch vierstellig, vor allem wenn sich Stars wie der Pianist Igor Levit barfuß daheim selbst filmten, wie er allabendlich eine Beethoven-Sonate interpretierte. „Hilft gegen depressive Stimmung“ postete „@teufelanne“ , trotz mieser Akustik. „Kuchenschnute 17“ grüßte Innsbruck. Andere bewerteten die Appassionata mit drei Lachgesichtern…

Levit war noch eine der nobleren Formen. „Schlechte Wohnzimmer-Streamings haben mehr mit Voyeurismus zu tun, als mit Musikgenuss“, sagt Raphael von Hoensbroech, Intendant des Konzerthauses Dortmund, lobt aber: Gutes Streaming demokratisiere Musik. Ob Orchestermusiker (auf 65 heimische Wohnzimmer verteilt) sich in Ravels Bolero versuchten, ob Chöre dezentral Harmonie demonstrierten oder Publikumslieblinge wie der Geiger Daniel Hope prominente Kollegen zu „hope@home“ bat: Die Skala des Angebots – so unterschiedlich die technische Güte war – reichte vom Mittelmaß bis zum Opernhaus von Weltrang. Sie alle einte die unfreiwillige Abkopplung vom Publikum. Selbst Levit räumte ein: „Der Kern geht verloren: das gemeinsame Erleben.“

Der Journalist Holger Noltze beschwört „Die Stunde des Streaming“ in der Klassik

Da nimmt sich ein Aufsatz von Holger Noltze fast euphorisch aus. „Die Stunde des Streaming“ nannte ihn der an Dortmunds TU lehrende Journalist. Zwar schließt er sich in seinem Text für das Magazin „Das Orchester“ der gängigen Einschätzung an, „der Reiz von selbstgebastelten Wohnzimmerstreams“ werde bald verblassen. Zugleich aber prophezeit Noltze dem Phänomen Streaming in Zukunft „als Medium eigener Art und selbst künstlerischen Anspruchs“ erkannt zu werden. Er nennt es gar „die zweitbeste Möglichkeit des Dabeiseins“, was angesichts der Übersichtlichkeit an Alternativen mindestens eine originelle Formulierung ist.

Zu Recht nennt der Autor die Frage nach der Qualität entscheidend. Eine Liga also, die fernab wackliger Hobbyfilmerei für große Konzerterlebnisse bürgt. Das betrifft die Interpreten, die Dramaturgie, die technische Ausstattung. Er weiß gut, wovon er spricht. Noltze selbst – das erfährt nur, wer sich bis zum Autorenverzeichnis am Ende des Heftes durchkämpft – ist in der Sache engagiert, als Mitgründer der ambitionierten Online-Klassik-Plattform „takt1.de.

Hat sie in der Pandemie mehr Zulauf? „Ja“, sagt Geschäftsführer André Sonst. Takt1 hat „von der Pandemie und dem damit verbundenen Lockdown profitiert“. Die Gründe sind nicht überraschend: „Dadurch dass es keine Konzerte mehr gab, die Leute mehr Zeit hatten und es mehr Verweise durch die Presse und die Konzerthäuser/Orchester gab, konnte wir ab März bis Juni deutlich mehr Kunden gewinnen.“

In der Branche professioneller Streaming-Dienste für den Bereich Klassik ist das nicht mehr als ein Licht am fernen Tunnelende. Abos kosten im Jahr 75-150 Euro. Vom Geldverdienen ist man weit entfernt. Abonnentenzahlen werden, so Takt1, „grundsätzlich nicht extern“ kommuniziert. Selbst ein herausragendes Produkt wie die „Digital Concert Hall“ der Berliner Philharmoniker muss mit Frühbucher-Rabatten werben, um die Kundenzahl zu mehren. Andere haben schon wieder aufgegeben. „Klassik TV“ ging 2013 mit großen Namen von Karajan bis Pavarotti auf den Markt, bot Abonnenten ein Archiv aus 6000 Filmen. Etwa 150.000 Kunden pro Monat hätte man gebraucht. Sie schafften es nicht.

Die Streaming-Dienste für Klassik sehen sich „noch in der Investitionsphase“

Die schlechte Nachricht ist die gute Nachricht: So verantwortungslos sich ARD und ZDF im Hauptprogramm aus der Klassik-Versorgung weggestohlen haben (auf dem Sendeplatz, auf dem heute Harald Glööckler im „Fernsehgarten“ zu singen versucht, wurde früher „Das Sonntagskonzert“ übertragen), so üppig ist die Auswahl auf den kulturellen Spartensendern 3.Sat oder Arte. André Sonst macht kein Geheimnis daraus, dass auch „viele kostenlose Inhalte“ bedingen, dass Takt1 „trotz starken Wachstums noch in der Investitionsphase“ sei.

Von einem wachsenden Online-Markt werden ohnehin nur international agierende Musiker etwas haben. Kein Flensburger abonniert die Dortmunder Philharmoniker; die Bedeutung regionaler Kulturversorgung erfassen Streaming-Dienste kaum. Für Raphael von Hoensbroech ist das nicht die einzige Schwäche: „Im Saal kommt zu den Schallwellen noch eine Dimension hinzu, die sich nicht digitalisieren lässt“, sagt er „und das ist die Dimension, die bei mir zu Gänsehaut oder zu Tränen führt.“

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Wie läuft Klassik im Fernsehen?

Trotz zumeist hochkarätiger Angebote sind auch die Zuschauerquoten für Klassik im Fernsehen zumeist im einstelligen Bereich. Führend in der Ausstrahlung bedeutender Klassik-Ereignisse von den Salzburger Festspielen bis zu Konzerten führender Orchester sind 3-Sat und Arte. Wegen Corona wurden zuletzt auch vielfach Ereigniss aus 2019 gezeigt: Die Sendung „Jonas Kaufmann in der Waldbühne“ vom 8. August 2020 erreichte beim Gesamtpublikum eine Sehbeteiligung von 0,17 Mio. Zuschauern und damit einen Marktanteil von 1%. Das Abrufvideo in der 3sat-Mediathek erzielt im Zeitraum 08.08.20 bis 13.08.20 knapp fünftausend Sichtungen.

„Rigoletto“ (Seebühne Bregenz 2019), ebenfalls am 08. August 2020, um 20.15 Uhr in 3sat erreichte eine Sehbeteiligung von 0,17 Mio. und einen Marktanteil von 0,8%. Das Abrufvideo erzielt im Zeitraum vom 8.8. bis 13.08.2020 achttausend Sichtungen.