Essen. Max Annas führt seine Serie „Morduntersuchungskommission“ fort: „Der Fall Melchior Nikoleit“ erzählt präzise von der späten DDR.
Heinz, Günther, Rolf, Konnie, Otto – klingt wie eine fröhliche Clique am Vatertag (oder „Herrentag“, wie man in Ostdeutschland zu sagen pflegte). Aber falsch! Die fünf trinkfesten Genossen bilden die „Morduntersuchungskommission“ des Bezirks Gera, ganz hinten in der DDR, und wir schreiben die 1980er Jahre. Diese dienstliche Bezeichnung ist ja einerseits präziser als die westliche „Mordkommission“, weil der Mord tatsächlich untersucht wird, andererseits aber auch bürokratischer, was nicht ganz untypisch war ausgerechnet für den deutschen „Arbeiter- und Bauernstaat“.
Max Annas führt uns in seinem zweiten „Morduntersuchungskommissions“-Roman wieder in den provinziellen Alltag der langsam absterbenden DDR. Im vorigen Band, „Der Fall Teo Macamo“, mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, ging es um die brutale Ermordung eines Gastarbeiters aus dem „Bruderstaat Moçambique“ im Jahr 1983 und den offiziell geleugneten, aber durchaus aggressiven Rassismus. Auf Weisung „von oben“ wird dieser Mord systematisch vertuscht.
Löcher in den Nietenhosen
Zwei Jahre später nun, 1985, beschäftigt die Ermittler ein weiteres, zunehmend explosives Tabuthema der sozialistischen Gesellschaft. Und wieder erweist sich die ganze Mühe der wackeren Fünf als vergeblich, ja absurd. Melchior Nikoleit, 18, seine Freundin Julia, 17, und ihre Kumpels haben in Jena eine dilettantische Punk-Band gegründet und üben sich im aufsässigen Lebensstil: wilder Haarschnitt, Löcher in den Nietenhosen (westlich: Jeans), kleinere Beutezüge zur Alkoholbeschaffung. Alles noch vorpolitisch – aber jetzt liegt Melchiors Leiche mit klaffender Kopfwunde im Lagerraum seines Vaters, der halblegale Geschäfte betreibt und als gewalttätig bekannt ist. Und diesmal beschränkt sich die tatkräftige Mitwirkung der „Stasi“ nicht nur auf den Befehl zum Vertuschen.
All das liest sich sachlich, ja nüchtern und detailgenau, erinnert an eine Reportage und entfaltet doch von Anfang an eine enorme Spannung, die in einigem Kontrast zum beschriebenen grauen Alltag mit seinen banalen Problemen steht. Das funktioniert, weil wir die Geschichte aus zwei grundverschiedenen Perspektiven miterleben: den Gang der Ermittlungen vor allem durch Otto (Oberleutnant Castorp!), einem Gerechtigkeitsmenschen mit Skrupeln und Ehekrise; die Vorgeschichte und das bittere Ende aber ganz direkt von der bitterlich trauernden Julia. Der Wechsel von Nähe und Distanz schärft den Blick für die auch im Osten vorhandenen unterschiedlichen Milieus und Mentalitäten mit all ihren Doppelbödigkeiten und Widersprüchen – im Privatleben der Figuren wie im propagandistischen Selbstbild eines untergehenden Staates.
Mehr als ein Krimi
Annas nutzt hier souverän ein Verfahren, das an die „teilnehmende Beobachtung“ der Sozialwissenschaft erinnert und uns zu zweifachem Lesegenuss verhilft: mit einem spannenden Krimi und einem realistischen und zugleich analytischen Gesellschaftsroman. Der oft missbrauchte Werbespruch: „Mehr als ein Krimi“ – hier ist es wirklich mal am Platze. Und am besten sollten Sie in diesem Fall die beiden vorliegenden Bände im Zusammenhang lesen; weitere werden wohl folgen.
Max Annas: Morduntersuchungskomission. Der Fall Melchior Nikoleit, Rowohlt Verlag, 335 S., 20 €