Essen. Was uns der Streit zwischen dem Comedian Dieter Nuhr und der Deutschen Forschungsgemeinschaft über die Debattenkultur im Internet lehrt.
Da hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), in der lauter Professorinnen und Professoren das Sagen haben, in dieser Woche mächtig etwas dazugelernt. Jetzt weiß nicht nur die Medienwissenschaft, was der Streisand-Effekt ist, sondern auch so manche Molekularbiologin. Oder auch die Juristen und Mathematikerinnen.
Der Streisand-Effekt ist benannt nach der gleichnamigen Hollywood- und Broadway-Schauspielerin. Sie versuchte einst einem Fotografen gerichtlich verbieten zu lassen, ein Luftbild von ihrem Anwesen in Malibu im Internet zu zeigen. Der Witz daran war, dass dieses Bild unter 12.000 anderen, mit denen der allmähliche Schwund der kalifornischen Küste dokumentiert werden sollte, bis dahin keiner Menschenseele aufgefallen war, zumal beim Bild von Barbra Streisand gar nicht die Rede war. Erst der gerichtliche Antrag auf Löschung lenkte den Blick der Öffentlichkeit auf dieses eine Bild.
Wissenschaft sei weder Religion noch Heilslehre
So ähnlich lief das mit Dieter Nuhr und der DFG. Der in der Wissenschaft hoch angesehene Verein, der jährlich über 3,3 Milliarden Forschungsgelder vom Bund und von den Ländern verteilt, löschte die Stellungnahme aus seinen Internet-Auftritten, die er zum 100-jährigen DFG-Bestehen von Nuhr erbeten hatte: Er sollte, neben anderen, zur die Wichtigkeit von Wissenschaft in der Welt von heute sprechen. Sie streite, so Nuhr sinngemäß, um das beste Argument, sei nicht immer einig und lebe von der Korrektur des Irrtums: Wissenschaft sei weder Religion noch Heilslehre, der „Fridays for Future“-Wahlspruch „Folgt der Wissenschaft“ sei also ein Ausweis dafür, die Prinzipien von Wissenschaft nicht begriffen zu haben.
Das ist überspitzt. Auch Nuhr räumt ein, die mehrheitlich geteilten Annahmen der Wissenschaft seien „die einzige vernünftige Wissensbasis, die wir haben“. Was, das sagt Nuhr aber nicht, bedeuten könnte, der Wissenschaft mit skeptischer, kritischer Distanz zu folgen, Irrtümer zu erkennen und aus ihnen Konsequenzen zu ziehen. Das immerhin hat die DFG getan.
Lösch-Aktion war unvernünftig und übereilt
Die Lösch-Aktion war so unvernünftig wie übereilt und offenbarte ein gewisses Maß an Dilettantismus in der Öffentlichkeitsarbeit. Irgendwer bei der DFG muss vom „Shitstorm“ auf Twitter (eine gerade mal dreistellige Zahl von Postings) geradezu in eine Panik versetzt worden sein. Solche Emotionalisierung ist das Grundkennzeichen der Internet-Kommunikation, führt zu jener „Großen Gereiztheit“, die der Medienforscher Bernhard Pörksen in seinem gleichnamigen Buch diagnostiziert hat. Pörksen empfiehlt als Gegenmittel übrigens eine journalistische Ausbildung für alle Internet-Nutzer.
Der Skandal-Mechanismus ist jedenfalls oft derselbe: Ein Beitrag im Internet löst Empörung aus – und irgendwer, sagte schon Kurt Tucholsky, sitzt in Deutschland immer auf dem Sofa und ist beleidigt. Diese Empörungs-Reaktion führt, nicht zuletzt wegen ihrer Emotionalität, unweigerlich zu einer Gegenreaktion, nämlich zur Empörung über die Empörung. Und schon ist man in der Debatte so weit weg vom eigentlichen Thema, dass man es kaum noch erkennen, geschweige denn diskutieren kann.
Für Provokateure ist es ein Triumph, Empörung auszulösen
Das bedeutet für all jene, die an ernsthaften, zielführenden Diskussionen im Internet interessiert sind, alle erkennbar emotionalisierten, beleidigenden, von der Sache ablenkenden Beiträge schlichtweg zu ignorieren. Für Provokateure ist es ein Triumph, Empörung auszulösen – und der größte besteht darin, eine Löschung ausgelöst zu haben. Eine Löschung, das steht im Handbuch der Media-Berater unter den Anfänger-Lektionen, kommt nicht in Frage. Für Dieter Nuhr, der immerhin regelmäßig im Ersten Deutschen Fernsehen nicht nur ungestraft, sondern auch hochbezahlt die Sendezeit mit Witzen füllen darf, die das Geländeniveau seiner niederrheinischen Heimat wenig überschreiten, bietet der ganze Wirbel wiederum Gelegenheit, sich als verfolgtes Opfer zu stilisieren, dem das Wort verboten wird.
So unsinnig das ist, so übel mutet an, dass es Menschen gibt, die im Internet geradezu reflexartig auf hochstilisierte Hass-Figuren reagieren, unabhängig davon, was sie konkret geäußert haben. Zu diesen Figuren zählt Greta Thunberg genauso wie Dieter Nuhr, der regelmäßig über sie und den Medienhype spottet, der in gutmeinender Absicht um sie herum erzeugt wird. Aber die Versuche, Menschen im Internet mundtot zu machen, sind zum Glück meist zum Scheitern verurteilt oder lösen das Gegenteil aus. Unternommen werden sie gleichwohl von Menschen, die sehr sicher sind, die Wahrheit und das Recht allein auf ihrer Seite zu haben. In den USA hat sich dafür der Begriff der „Cancel Culture“ entwickelt.
Ein bedenklicher Begriff von Debattenfreiheit
Die Vorstellung, das, was man für Böse hält, einfach zu löschen, hat nicht nur messianische Züge, ihr liegt auch ein bedenklicher Begriff von Debattenfreiheit zugrunde. Demokratie bedeutet schließlich nicht selten, dass man die Freiheit der anderen aushalten muss. Der Voltaire zugeschriebene Satz „Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen“ ist zwar etwas pathetisch und würde auf Twitter wahrscheinlich Kübel von Spott ernten. Sein Kern aber gilt: Dass uns die Freiheit der Meinungsäußerung wichtiger sein muss als die Frage, welches nun die richtige Meinung ist.