Essen. Vor 100 Jahren veröffentlichte Agatha Christie ihren ersten Poirot-Krimi. Der kleine belgische Detektiv erreichte bald Kultstatus.

Ihr Sohn ist offensichtlich kleinwüchsig, dazu hat er einen ausladenden Eierkopf, niemand nimmt ihn ernst – und wie nennt sie ihn? Hercules! Natürlich hatte die Gemeinheit der Mutter Methode. Denn leben die ganz großen Auftritte nicht davon, als Unterschätzter auf die Bühne zu trippeln? Und Agatha Christies Hercule Poirot ist es Fall für Fall gewesen. Vor 100 Jahren erschien sein erster.

Schon da ist der Detektiv ein Fossil. „Sie haben in der alten Zeit sehr viel geleistet, nicht wahr? Aber die Methoden haben sich seither erheblich verändert“, muss sich Poirot früh von einem Kollegen maßregeln lassen. Verlegen um eine Antwort ist er nicht: „Die Verbrechen sind so ungefähr die gleichen.“ Poirot wird viele von ihnen sühnen. Der aus dem besetzten Belgien Emigrierte kostümiert sich dazu nicht wie der koksende Sherlock Holmes, er prügelt sich nicht wie diese primitiven Amerikaner. Es erledigen bei ihm alles die „kleinen grauen Zellen“.

Im Ersten Weltkrieg schuf Agatha Christie Hercule Poirot. 1920 erschien der erste Fall

Die Opfer, die ihm Arbeit verschaffen, sterben auffallend häufig durch Gift; Agatha Christie arbeitete als junge Frau im Ersten Weltkrieg in einer Apotheke. Mal steckt es in einer Zahnfüllung, mal in Augentropfen, mal als Arsen in einer Torte. Es treffen die Menschen Kugeln aus den unmöglichsten Winkeln, es greifen würgende Hände in lauschigen Strandbuchten zu, auch Handwerkszeug aus der guten alten Zeit kommt zum Einsatz, als da etwa ein Zuckerhammer wäre.

In einem Punkt hält sich Agatha Christie (1890-1976) an die Regeln des Genres: Kein Mitleid mit den Opfern! Also sind es töricht plappernde Hausmädchen, steinreiche Egozentriker, hochstapelnde Erpresser oder ganz einfach Unbedeutende, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Mit der Zeit rochen Leser diese Momente. Sagt bei Christie jemand: „Ich vergesse nie ein Gesicht!“, unterschreibt er sein Todesurteil. Denn er erkennt, dass jemand, sei es auf einer Mesopotamienreise, sei es beim Kindergeburtstag, nicht der ist, der er vorgibt zu sein. Erpressung ist oft ein Motiv. Rache auch, manche warten Jahrzehnte auf den Moment. Der Berühmteste lauert im Orient-Express, mit gleich 13 Tätern. Die Idee kam Christie beim Anblick des Zuges in Istanbul; anfangs sammelte sie Typen für ihre Krimis in der Straßenbahn.

33 Romane boten dem kleinen Belgier Poirot die Bühne, die verwickeltsten Verbrechen zu enthüllen

Agatha Christie kannte die Menschen. Sie wusste: Zu verbergen gibt es immer etwas. So wird auch Poirot in 33 Romanen mehr als einmal nach Übersee kabeln, alte Familienalben oder vergilbte Tageszeitungen durchstöbern, um eine Tat mit sehr sehr langen Schatten ans Licht zu bringen. Dass Christie das Doppelgängermotiv liebte und pflegte, ließ die Lösung oft noch einen Purzelbaum mehr schlagen.

In anderen Punkten pfiff die Frau, die als chaotische Autorin Ariadne Oliver gelegentlich in Poirots Fällen mitmischte, von Anfang an auf Traditionen des Kriminalromans. Sie nasführte die Leser skrupellos und brach Tabus. Selbst ein Kind („Das krumme Haus“, ohne Poirot) ist bei ihr der Mörder, ein Ich-Erzähler, der als Poirots Assistent agiert („Alibi“). Und am Ende war es der Meisterdetektiv gar selbst: „Vorhang“ hatte Christie früh geschrieben, veröffentlicht wurde er erst, als Christies Kräfte schwanden; das Manuskript hatte Jahrzehnte in einem Tresor verbracht. 40 Jahre zuvor hatte die Britin ihren Detektiv derlei rigoros ausschließen lassen: „Monsieur Hercule Poirot des Mordes verdächtig – das ist der köstlichste Spaß, den ich seit langem hörte!“

Wer die Lösungen liebte, mit denen Poirot aufwartete, durfte kein Freund des Wahrscheinlichen sein. Verstellte Uhren, verstellte Stimmen, Luftballons, die Schreie imitieren, Frauen, die nicht merken ein zweites Mal denselben (!) Mann geheiratet zu haben: Es ist maßlos, was diese Erzählerin uns auftischt. Und maßlos genießen wir es!

Triumph des Außenseiters: Oft wird Poirot in den Romanen belächelt - bis er zupackt

Das hängt mit dem belächelten Außenseitertum zusammen, das sie mit Poirot kreierte. Freuen wir uns nicht diebisch, wenn dieser belackschuhte Geck die Manege betritt und alle an die Wand spielt, die ihn zuvor verhöhnt haben? Die, die den Belgier partout einen Franzosen nannten, ihn mal Pierrot riefen, mal Porridge. Die sein pomadiges Getue ablehnten wie seinen gezwirbelten Bart? Aber das kennt er ja: Mais oui! „Weltberühmten Männern sieht man ihre Leistungen selten an. Ich selbst, ich, Hercule Poirot, bin sogar einmal für einen Friseur gehalten worden.“

Christie war eine geniale Konstrukteurin, nie war sie eine Königin des Stils. Den geistreichen Witz von Dorothy Sayers’ Lord Peter Wimsey unterbot sie zuverlässig, das tiefgründig-intellektuelle Geschütz von Chestertons Father Brown fuhr sie nie auf. Welchen Rang Poirot dennoch gewann, lässt sich leicht ablesen an jener charmanten Parodie, in der Leo Bruce ihn mit besagten Kollegen 1936 zeitgleich ermitteln ließ; neben Simon Plimsoll und Monsignore Smith zückt die Lupe: Amer Picon.

Miss Marple nahm ihm Fälle ab: Ihre Verfilmungen „mausten“ bei Poirot

Verfilmungen glückten selten in Gänze. So glanzvoll komisch Peter Ustinov den Nil erschipperte, er blieb an der Oberfläche. Nach den Dreharbeiten gab er zu, die Auflösungen bei Christie seien so verworren, dass nicht einmal er sie verstanden habe. Kenneth Branaghs Versuch, die Ära der Detektive fürs 21. Jahrhundert zu retten, schenkte uns kaum mehr als Augenfutter. Ein Meisterwerk blieb Sidney Lumets „Orient-Express“ von 1974, ein ironisches Kammerspiel, dem die Platzkarte in der ersten Wagenklasse der Filmgeschichte sicher ist.

Viel populärer – trotz der reitenden Anti-Christie-Besetzung Rutherford – waren sämtlich die Marple-Schinken der 1960er. Welche Schmach für Poirot, dass er fürs Kino gleich seiner zwei Fälle („Der Wachsblumenstrauß“, „Vier Frauen und ein Mord“) an den molligen Doppelkinn-Dragoner abtreten musste. Dass Agatha Christie ihm unendlich mehr Anerkennung zu verdanken hatte, schlug sich allerdings in einer sehr persönlichen Widmung nieder. Nach dem Ort von Hercules erster und letzter Ermittlung nannte die Auflagenmilliardärin ihr Hause: Styles.

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Verneigung vor der Antike

Agatha Christie beließ es nicht beim Namen Hercule. Die in der Antike bewanderte Autorin nahm in kleinen Erzählungen von Augias bis Zerberus den Helden beim Namen und übertrug seine Taten auf Detektivgeschichten. Sie sind nachzulesen in „Die Arbeiten des Herkules“, auch wenn der Nemeische Löwe ein Pekinese ist.