Essen. Ein rasanter Flickenteppich: Montage und Krimi zugleich. Young-Ha Kim legt mit: „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ einen starken Roman vor.

Herr Kim ist siebzig Jahre alt und lebt allein am Rand einer koreanischen Stadt. Seine Pflegetochter Unhi, fast dreißig, kümmert sich um ihn, drängt aber auf Unabhängigkeit. Im Geheimen genießt Herr Kim, ehemals Tierarzt, seinen doppelten Ruhestand: „Meinen letzten Mord habe ich vor fünfundzwanzig Jahren begangen.“ Das ist der erste Satz dieses ganz außergewöhnlichen kleinen Buchs. Ist es ein Krimi?

Jedenfalls wirbelt es die gewohnten Rollen und Perspektiven gehörig durcheinander. Herr Kim nennt es sein Tagebuch, es reiht – durchaus modern – Alltagsnotizen, Erinnerungen auch an seine Verbrechen, Gedanken und Lesefrüchte eines Mannes aneinander, der die koreanische Literatur, aber auch Nietzsche und Montaigne liest und zitiert. Er war weder Profikiller noch Sexualtäter, seine Morde, allesamt unaufgeklärt, folgten einem inneren, inzwischen verstummten, quasi-ästhetischen Drang nach „Perfektion“.

Jetzt jedoch ist dreierlei geschehen: In der Nachbarschaft sind mehrere Frauen ermordet worden, Unhi hat eine Beziehung zu einem „verdächtigen“ Herrn begonnen – und Herr Kim leidet an rapide fortschreitender Demenz. Seine Aufzeichnungen braucht der Vergessliche nun für sein letztes Projekt: Er muss den verdächtigen Park vernichten, ehe er auch Unhi ins Unglück stürzt. Also alles notieren!

Kims „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ sind ganz besonderer Krimi-Stoff

Aber auch das hilft irgendwann nicht mehr, wie er und wir bald bemerken. Seine Wahrnehmungen werden ungenau, die Welt zerfällt ihm in Teile, und die wiederum in Teile (wie einst ein Dichter schrieb). Vergangenheit und Gegenwart überlagern sich, verschwimmen, und Fragen überschwemmen den kranken Mann: Ist er nun in einer Klinik oder einem Gefängnis? Ist Unhi wirklich seine Pflegetochter oder eine Krankenpflegerin? Und Park der neue Serienmörder oder eher doch der Kriminalkommissar, der jetzt auch die alten Morde aufklärt? Und letztlich: Wer ist Kim selbst?

Der sterbenskranke Mann versinkt in diesem Meer von Ungewissheit und Fragen, aber wir beginnen, die unausgesprochenen Antworten zu verstehen oder mindestens zu erahnen. Der schlanke, sehr ansprechend gestaltete Band ist ein Meisterstück „unzuverlässigen“ Erzählens, das zwischen Realismus, Reflexion und schwarzem Humor pendelt und unsere höchste Aufmerksamkeit fordert.

Dass sein Autor, Jahrgang 1968, in Korea wie auch international schon sehr renommiert, ebenfalls Kim heißt (und die Übersetzerin ins Deutsche Park), könnten wir als finale Pointe verstehen. Gewollt oder ungewollt?

Young-Ha Kim: Aufzeichnungen eines Serienmörders. Aus dem Koreanischen von Inwon Park, Cass Verlag, 252 S., 20 €.