Essen. Ein Lebenswerk - wird Buch. Roberto Ciullis Werden und Wirken ist jetzt als wuchtiger Doppelband im Buchhandel zu haben.

Zwei Bände, die ein Leben umfassen: gute fünf Pfund Buch. Noch schwerer wiegt, was dieses Gewicht als Botschaft bedeutet: Der Großteil ist geschehen und also bereit, erzählt zu werden. 1280 Seiten von, mit, über Roberto Ciulli.

Der Theatermacher ist 86 Jahre alt – und jetzt schon, Ciulli ein langes Leben wünschend, fürchtet mancher, das seine Erfindung – dieses außerordentliche Theater an der Ruhr – eines Tages der Bausch-Effekt ereilen könnte. Wird nach ihm Nennenswertes kommen?

Der renommierte Alexander-Verlag setzt Roberto Ciulli mit einem Buch ein Denkmal

Ein Grund mehr, einzutauchen in die schillernde Welt eines Mannes, der in der Lombardei das Licht der Welt erblickt, die Theaterfackel aber mit flackernder Verve durch die Bundesrepublik tragen wird. Er ist Doktor der Philosophie und „Handarbeiter im Stücklohn“ bei Bosch in Göttingen. Ein Kind, dessen Geburt alle für einen Scherz halten, weil sie auf den ersten April fällt. Im Militärdienst der einzige Mann mit Abitur, er wird EKG machen für den Oberstabsarzt – und mit 29 seinen ersten Herzinfarkt haben. Der Mann fährt Lkw und ein weißes Triumph-Cabrio mit roten Ledersitzen, er wird drei Kinder zeugen und doch erklären, für Familie nicht der Richtige zu sein...

Wen Ciullis Theater je elektrisierte, der wird dieses wuchtige Werk über dessen Leben und Schaffen und Denken nicht durchblättern, er wird sich gleich festlesen. Die Herausgeber Alexander Wewerka und Jonas Tinius fanden einen sprechenden Titel: „Der fremde Blick“.

Das Buch über Roberto Ciulli und „sein“ Theater hat mit „Der fremde Blick“ einen vieldeutigen Titel

Mindestens zwei Lesarten gibt das mühelos her. Die eine ist biografisch. Ciulli ist ein Fremder mit großer Liebe zur deutschen Sprache, der das deutsche Stadttheater über Jahre erlebt und aus Verkrustung und kommunaler Tretmühle ausbrechen will, weg von „Institutionen, die meinten, sie könnten mit ihren Bürokratien die Kunst unterstützen“. Die Konsequenz dieser Haltung wird das Theater an der Ruhr. Auch daran erinnert das Werk: Es ist dieses Theater an diesem Ort von Beginn an keine Selbstverständlichkeit. Mülheimer Gesprächsnotiz, September 1979, in Maschinenschrift: „Der Oberbürgermeister zeigte sich ambivalent...“

1981 dann der Anfang, Euphorie und Schock scheinen durchaus Geschwister. Deutschlands Theaterszene blickt auf Mülheim. Es wird viele Pilger geben und manche Verständnislose. „Solche Schweinereien können Sie in Italien veranstalten, aber nicht bei uns!“, fährt eine Dame Roberto Ciulli mal angesichts seines „Sommernachtstraums“ an und schimpft, er stelle einen Menschen als Esel dar. Ciulli: „Ich erklärte ihr, dass diese Idee von Shakespeare, einem Engländer, stammt.“

Das Beispiel könnte dazu verführen, das Buchprojekt für eine Anekdotensammlung zu halten. Das ist es nicht. Viele Gespräche aus vielen Jahrzehnten bilden den vielschichtigen intellektuellen Ehrgeiz des Theatermachers ab und lassen – teils in historischen Gastbeiträgen – Schwerpunkte einer Arbeit Revue passieren, die immer Reise war, sich sogar auf den Weg zum Orient machte (Projekt Seidenstraße) und nie aufhörte, in den Clowns die wahren Weisen zu besingen.

Das Ringen um die Perspektive gehört zu den Charakteristika von Ciullis Theaterarbeit

Das ist die zweite Lesart von „Der fremde Blick“: Roberto Ciulli hat sich, den Seinen und erst recht dem Zuschauer stets eine Perspektive abgerungen, die fremd war, oft unbequem und damit das andere, unverständliche und also Fremde bestenfalls perspektivisch verstehen ließ, ob in Wedekinds „Lulu“ oder zuletzt in „Boat Memory“, einem Requiem auf die, die in Europa Hilfe suchten und den Tod fanden.

Es darf bei diesem wuchtigen Doppelband nicht wundern, dass Kritik und mögliche Ermüdungserscheinungen dieser Theaterstruktur und ihrer Protagonisten kein großes Thema sind: Die Herausgeber machen von Anfang an keinen Hehl daraus, dass ihr Werk „ein Denkmal in Buchform“ ist. Einer wie Roberto Ciulli verdient es.

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ZUM BUCH

„Der fremde Blick – Roberto Ciulli und das Theater an der Ruhr“ ist im renommierten Berliner Alexander Verlag erschienen.

Die zwei Bände präsentieren 450 Abbildungen und Dokumente, Texte, Gespräche und Kritiken, dazu aktuelle Interviews des Anthropologen Jonas Tinius mit Roberto Ciulli. ISBN 978-3-89581-491-4. 35 €