Man muss durchaus keine konsequente Geschichte erzählen, um im Kino zu fesseln: Willem Dafoe in „Siberia“ ist ein gelungenes Beispiel dafür.
In Abel Ferraras „Tommaso und der Tanz der Geister“ arbeitet die von Willem Dafoe gespielte Titelfigur, ein alternder, von seinen Dämonen gequälter Regisseur, an einem neuen Film. Storyboard-Zeichnungen und kurze Drehbuchausschnitte suggerierten ein sehr persönliches, zugleich aber auch sehr schwer zu fassendes Werk, von dem man sich kaum ein Bild machen kann. Alles deutet auf einen Film hin, in den sein Schöpfer sein ganzes Herzblut gießt, der aber nie realisiert wird.
Doch nun gibt es diesen Film tatsächlich. Er trägt den Titel „Siberia“ und wurde von Abel Ferrara gedreht. In seinem Zentrum steht erneut Willem Dafoe, der nun in die Rolle von Clint, einem Mann auf der Suche nach dem Kern seines Lebens, schlüpft. Damit spielt er eben jene Figur, über die er in „Tommaso“ so intensiv nachgedacht hat.
Der Kinofilm „Siberia“ knüpft an Abel Ferraras „Tommaso und der Tanz der Geister“ an
Und schon nach wenigen Szenen kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Ferraras Film radikaler ist, als diese ersten Einblicke erahnen ließen. In „Tommaso“ hat er noch eine Geschichte erzählt, wenn auch eine sehr private. Aber Ferraras Kino war immer schon zutiefst autobiographisch. Selbst „Bad Lieutenant“, seine wohl berühmteste Arbeit, erzählte vor allem von seinen eigenen Obsessionen, nur im Gewand eines Polizeifilms.
In „Siberia“ löst sich jeder noch so kleine Ansatz zu einer geschlossenen Erzählung sofort auf. Führt Clint zunächst einen einsamen Handelsposten in einer verschneiten Berglandschaft, verwandelt sich der Film von einem Moment auf den anderen in ein spirituelles Road Movie, in dem sich eine Winterlandschaft übergangslos in eine Wüstenszenerie verwandeln kann.
Die Bilder in diesem Film sind wie die Gedanken des Protagonisten: ständig im Fluss
Ferrara und sein Kameramann Stefano Falivene haben hier zu einem höchst eigenen Stil gefunden. Die Bilder sind wie Clints Gedanken ständig im Fluss. Nichts hat Bestand. Dabei wirken die Schauplätze ebenso wie Falivenes Bildkompositionen auf den ersten Blick erstaunlich realistisch. Doch dann schleichen sich irritierende Details ein, die alles wieder in Frage stellen. Was wie eine äußere Reise durch die unterschiedlichsten Landschaften und Regionen der Welt wirkt, erweist sich mehr und mehr als Odyssee durch das Innere eines Mannes, der nirgendwo Halt findet. Kindheitserinnerungen und Albträume, Visionen und Alltagswahrnehmungen fließen so weit ineinander, dass sich das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden lässt.
Der einzige ruhende Pol in diesem Mahlstrom des Unter- und Unbewussten, das mit aller Macht an die Oberfläche drängt, ist Willem Dafoe. Er verkörpert diesen in einer tiefen Krise gefangenen Mann mit einer bewundernswerten Zurückhaltung. Nur kleinste Gesten und Regungen der Augen verraten, wie es in Clint aussieht. Dieses Understatement erlaubt es Dafoe zugleich in den Momenten, in denen er auch die Rolle von Clints Bruder oder von ihrem Vater übernimmt, mit sich selbst zu spielen. So wird das albtraumhafte Zusammentreffen von Clint und seinem Bruder zu einer Art psychischem Duell. In der Dopplung der Figuren wird sichtbar, was sonst verborgen bleibt.
Letzten Endes grenzt es an ein Wunder, dass Ferrara „Siberia“ realisieren konnte. Selbst wenn man gelegentlich an dieser zutiefst persönlichen Sinnsuche eines Künstlers zu verzweifeln droht, bleibt das Wissen, dass das Kino ohne Filme wie diesen um Vieles ärmer wäre.