Dortmund. Wissenschaftlerin Iuditha Balint leitet das Dortmunder Hüser-Institut für Literatur der Arbeitswelt. Ihr Thema: die vielfältigen Entgrenzungen.
Als um 1900 die ersten Bewohner die Kolonie Landwehr bezogen, da lag ihr Arbeitsort sehr nah: Gleich gegenüber ragt Zeche Zollern noch heute backsteinrot auf. Und doch waren damals die Grenzen zwischen der Arbeitswelt und dem Privatleben so viel klarer gezogen als heute. Mit dem Kohlestaub wuschen sich die Bergleute den Arbeitstag ab, mit dem Stempel legten die Beamten das Tagwerk nieder. Und erreichten in wenigen Schritten eine ganz andere, rein private Welt.
Stempel benutzt auch Iuditha Balint noch in ihrem Büro auf dem Zollern-Gelände, in dem historisch-hölzernen Karteikasten auf ihrem Schreibtisch allerdings bewahrt sie Visitenkarten auf. Seit anderthalb Jahren leitet die 43-Jährige das Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt. Ihre liebsten Arbeitsorte in Dortmund, neben den Institutsräumen? Der heimische Lesesessel und das Café Flayva in der Hansastraße, verkehrsgünstig gelegen am Hauptbahnhof. Hier schlägt sie gerne mal ihr Notebook auf. Und weiß sich damit in allerbester Gesellschaft. In Mannheim hat sie zur Entgrenzung der Arbeit in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur promoviert, hat dabei die sprachlichen und epistemischen Folgen der Durchmischung von Beruf und Privat erforscht – die ständige Erreichbarkeit, die Identifizierung mit dem Beruf, die damit einhergehenden Veränderungen in der Sprache und im Denken.
Selbst Arbeitslosigkeit wird noch in Arbeit umgemünzt: die Arbeit am eigenen Selbst
„Feridun Zaimoglu, Kathrin Röggla, Ernst-Wilhelm Händler, Rainer Merkel – viele, viele Werke“ fallen ihr ein, die Arbeit jenseits des Ökonomischen betrachten. Wie selbst Arbeitslosigkeit noch in Arbeit umgewandelt wird, nämlich in die Arbeit am eigenen Selbst, beschreibt etwa Joachim Zelter in seiner „Schule der Arbeitslosen“ – und „keiner der neuen Selbstentwürfe ist gut genug“. Eine Szene hat sich Iuditha Balint besonders eingeprägt: „Eine der arbeitslosen Frauen soll sich vorstellen, sie sagt: ‚Ich bin … Floristin.‘ – obwohl sie das natürlich längst nicht mehr ist.“ Und wieso eigentlich reden wir heute von „Beziehungsarbeit“ oder nennt die Werbung Mütter „Familienmanagerinnen“? Die Literatur führt uns gesellschaftliche Prozesse vor Augen, fordert heraus.
Was hat Iuditha Balint selbst gelernt aus ihren Forschungen? „Ich sitze abends nicht mehr so oft auf dem Sofa und arbeite nebenbei“, sagt sie mit einem Lachen, andererseits könne die literarisch bedingte Selbsterkenntnis natürlich auch sein, „dass unsere Arbeit wunderschön und sinnvoll ist“. Als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin an Universitäten in Mannheim, Charlottesville und Essen hat die in Rumänien geborene Ungarin viele Verwaltungsangestellte kennengelernt – „manche identifizieren sich mit dieser Tätigkeit, manche eher nicht“. Und plötzlich wird sie sehr ernst: „Mir ist es wichtig zu sagen, dass Arbeit tatsächlich für manche Menschen einfach nur Broterwerb bedeuten kann – und das ist völlig in Ordnung so!“
Hausväterliteratur bis hin zu Anleitungen zum Briefeschreiben für Sekretäre
Als Direktorin weicht sie selbst Grenzen auf, im positiven Sinne. In den Archivschränken des Fritz-Hüser-Instituts lagert Material von Max von der Grün über Richard Limpert bis Paul Zech, mit großer Faszination zeigt sie ein literarisches Wanderbüchlein von Erich Grisar – Begegnungen mit Menschen aus ganz Europa hat er hier festgehalten. Die wissenschaftliche Präsenzbibliothek gleich nebenan umfasst schon jetzt 60.000 Werke zu Literaturen über Arbeit seit dem 19. Jahrhundert und soll weiter aufgestockt werden: „Dichter fingen ja nicht erst im 19. Jahrhundert an, über Arbeitswelten zu schreiben. Wir gehen jetzt zurück bis zum 15. Jahrhundert und sammeln von der Hausväterliteratur bis hin zu Anleitungen zum Briefeschreiben für Sekretäre.“
Neu ist auch, dass sie nicht mehr warten will, bis Menschen ins Haus kommen – sondern das Haus, ihre Arbeit, zu den Menschen bringen will. Wenn im kommenden Jahr mit dem Projekt „Works & Circles“ der 1970 gegründete Werkkreis Literatur der Arbeitswelt gewürdigt wird, dann wird es „keine klassischen Ausstellungen“ geben. Sondern Videoinstallationen im öffentlichen Raum, Podiumsdiskussionen, einen Jugendschreibwettbewerb, Theaterperformances in der Dortmunder Nordstadt, Seminare, Tagungen. „Wir möchten unser Wissen so weit wie möglich demokratisieren“, sagt Iuditha Balint. Dazu gehört nicht nur, dass die Texte aus dem Schreibwettbewerb via soziale Medien zugänglich gemacht werden. Sondern auch, dass die historischen Werkkreis-Sammelbände aus der Fischer-Taschenbuchreihe verschenkt werden – nachdem sie ihre Hauptrolle in den Performances gespielt haben.