Essen. Seine Arbeit war einzigartig, bis zuletzt waren Christos gewaltige Projekte Magnet und Leuchtturm. Nun ist der Künstler 84-jährig gestorben.
Selbst Titanen der Kunst sind von stilgeschichtlichen Zuschreibungen vereinnahmt worden, Monet landete in der Impressionismus-Lade, das Goldene Zeitalter nahm Vermeer in jenen Würgegriff, der Epochen zu eigen ist. Für einen aber schuf die Welt einen eigenen Beruf: Wer konnte Christo nennen, ohne „Verpackungskünstler“ zu sagen?
Kein schönes Wort. Ließ es nicht auch anklingen, dass malende Konkurrenz und Feuilleton einen Hauch kunstgewerblicher Scharlatanerie witterte, eine Mogelpackung sozusagen, wenn dieser von seinen Ideen so heftig Getriebene zur nächsten Großtat schritt? Besser gesagt: sie gemeinsam mit seiner Frau Jeanne-Claude (1935-2009) erst erdachte, dann ankündigte, dann in Hunderten Zeichnungen vorformulierte, und mit einem derart langem Atem – allein „Wrapped Reichstag“ dauerte vom Wunsch bis zum Tag, an dem die letzte Plane wieder fiel, fast ein Vierteljahrhundert! – wie er sonst nur Bauwerke für die gefühlte Ewigkeit umweht.
Christo ist tot. Mit seiner Frau Jeanne-Claude bildet er ein einzigartiges Künstler-Gespann
Christos Werk aber war vielfach und in den meisten Fällen das Gegenteil: Es war Opulenz mit dem Wissen um Flüchtigkeit. Staunenswerte Majestät für einen gedehnten Augenblick. Und als das elefantöse Poly-Grau den Berliner Reichstag bedeckte, wehte im wieder vereinigten Deutschland tatsächlich der Mantel der Geschichte. Der Kunstgeschichte zumal: Wer die Akribie erleben konnte, auch die Tobsuchtsanfälle, das juristische Drohgewitter dieses schmalen Mannes, der noch unter Zar Boris III im bulgarischen Gabrowo aufgewachsen war, erfühlte vor allem professionelle Besessenheit. Und so waren für die 14-tägige Großtat an der Spree jedwede Faltenwürfe samt Windströmungen bedacht worden. Eine Gewissenhaftigkeit, die den Malern der Renaissance Ehre machte und die es in Berlin zugleich schaffte, dem Reichstagsbau die Last der Historie zu nehmen, ihn groß zu lassen und leicht zu machen, als sei er ein später Kronzeuge des schönen Malewitsch-Satzes wie man Kunst „vom Ballast der gegenständlichen Welt“ befreit.
Nicht schlimm, dass 1995 nur ein Bruchteil der strömenden Menge von fünf Millionen Menschen dergleichen realisierte. „Reichstag gucken“ (was nicht viel anders als die Besichtigung eines neuen Eisbärbabys klang) wurde zum eigenen Wort für jene Kunst-Anschauung, die Christo ermöglichte. Das Ereignis war vielleicht nicht das Kunstvollste in der langen Karriere des Paares, aber es dokumentiert im Herzen Europas nachgerade idealtypisch das Credo von einer Kunst im öffentlichen Raum, die „niemand kaufen“ kann und auf die nie Eintrittsgeld erhoben wurde.
Es brauchte fast 25 Jahre, bis Christo den Berliner Reichstag verhüllen durfte
Der 1935 geborene Christo Wladimirow Jawaschew war als Kunststudent über Wien 23-jährig nach Paris gekommen. Viel eigene Handschrift sagte man ihm zunächst nicht nach. Das lag am notwendigen Broterwerb: Er galt als handwerklich tadelloser Porträtmaler, der ein und das selbe Bild mal eben in drei Spielarten abrufen konnte – kubistisch natürlich auch.
Aber es interessieren ihn ganz andere Sachen: Kram aus dem Atelier, gerne Dosen, verpackt er schon Ende der 1950er. Sie wirken wie ein Vorgriff auf die Öl-Fässer, die ein Leitmotiv seiner Arbeit werden sollen. Christo, der sich als Exilant eines kommunistischen Landes versteht, leidet unter dem Wachsen der eisernen Vorhänge in Europa. Angeblich stemmt der schmale Bursche alle knapp 90 Ölfässer selbst, die in einer Seitenstraße von Paris 1962 seine künstlerische Entgegnung zum Mauerbau darstellen. Ein paar Monate später heiratet er die mondäne und nicht zuletzt ob ihres berüchtigten Temperaments eindrucksvolle Schönheit Jeanne-Claude, zwei Jahre nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes.
Im Ruhrgebiet schuf Christo gleich zwei Werke: „The Wall“ und „Big Air Package"
Eine Mauer aus Fässern! Ältere erinnern sich an die erregte Verunsicherung, die unsere Region im letzten Jahrhundert ergriff als das Künstlerpaar nahte, das doch schon auf der documenta Luft verpackt hatte, das so verrückt war, mit der orangefarbenen Bedeckung einiger Rocky Mountains zu scheitern, das für „Surrounded Islands“ ein Dutzend Inseln vor Florida zu ummanteln und (auch dank Jacques Chirac) den Pont Neuf von Paris neu und sandfarben einzukleiden verstand. Dass diese Weltstars also nun nach Oberhausen kommen sollten! Sie kamen, der Autor dieser Zeilen erinnert sich an einen Termin mit einem weltweit nicht ganz unbedeutenden Christo-Fan im Publikum: Drin saß so diskret wie unübersehbar „Easy Rider“ Dennis Hopper. Da fiel womöglich auch bei jenen Provinzfürsten der Groschen der Bedeutsamkeit, die die Sache mit den 13 000 bonbonbunt bemalten Ölfassern im Gasometer mit merklich unsicherem Patriotismus begleitet hatten.
„The Wall“ aber zog 1999 als Abschlussereignis der Internationalen Bauausstellung 390.000 Besucher an. Und Christo und Jeanne-Claude, die eigentlich immer weiter zogen, immer Neues suchten, kehrten 14 Jahre später noch einmal dorthin zurück, um „die größte bisher geschaffene Innenraumskulptur der Welt“ zu kreieren: „Big Air „Package“.
Christos letztes Werk wird auch nach seinem Tod vollendet: der Arc de Triomphe, verhüllt
Die kommerzkritischen, aber durchaus geschäftstüchtigen Christos (jede Skizze brachte gutes Geld, selbst signierte Fotos der Kunstaktionen lagen im vierstelligen Euro-Bereich) kannten wir lange nur zu zweit. Weitergehen sollte es aber auch allein, angeblich reisten sie darum sogar in getrennten Flugzeugen. Und also auch als Witwer blieb Christo visionär fleißig. Und wäre Corona nicht gekommen, der Arc de Triomphe hätte dieses Jahr verpackt vor unseren Augen gestanden. Das Kunstwerk wird es dennoch geben. Christo aber, der verhüllte, um vielen die Augen zu öffnen, ist nach einem erfüllten Leben am Sonntag in seiner Wahlheimat New York gestorben.