Essen. Blixa Bargeld, Kopf der Einstürzenden Neubauten, über das Problem mit Schrottplatz-Besuchen und „Alles in Allem“ das erste Album seit 12 Jahren.
„Alles in Allem“, das erste reguläre Studioalbum der Einstürzenden Neubauten seit zwölf Jahren, ist ein veritabel hübsches Spätwerk geworden. Aber scheppern und rumpeln vornehmlich auf selbstgebastelten Instrumenten, das war einmal. Die fünf Berliner um Sänger und Multitalent Blixa Bargeld , die 1981 ihr erstes Album „Kollaps“ veröffentlichten, haben sich stärker denn je einem melodischen, eher ruhigen und oft durchaus schöngeistigen Sound verschrieben. Steffen Rüth unterhielt sich mit Bargeld, der mit seiner amerikanischen und lange im Silicon Valley tätigen Ehefrau Erin sowie der gemeinsamen Tochter in Berlin lebt, über Skype.
Herr Bargeld, welche Auswirkungen wird die Coronakrise auf die Kunst haben?
Blixa Bargeld: Keine Ahnung, das kann ich nicht beurteilen. Wahrscheinlich wird es demnächst haufenweise schlechte Romane geben.
Wollen Sie nicht vielleicht einen guten schreiben?
Nein, ich schreibe Lyrik. Romane waren nie mein Ding. Ich lese auch keine Romane.
Das überrascht mich.
Den Kanon der Weltliteratur habe ich irgendwann mal verdaut, aber ich lese schon seit langem so gut wie gar keine zeitgenössische Literatur. Sondern vorzugsweise Sachbücher. Aktuell lese ich „Die Ordnung der Zeit“ von Carlo Rovelli.
Der letzte Satz auf Ihrem neuen Album, im Stück „Tempelhof“, lautet: „Hier komme ich abhanden.“ Mögen Sie dieses Gefühl?
Zur Person
Blixa Bargeld, 1959 in Berlin als Christian Emmerich geboren, wählte seinen Künstlernamen nach einer Faserstiftmarke und dem Künstlernamen des Kölner Dadaisten Johannes Theodor Baargeld. Er gründete 1980 mit N. U. Unruh, Gudrun Gut und Beate Bartel die Einstürzenden Neubauten und 1984 die Band Nick Cave and the Bad Seeds, in der er bis 2003 Gitarre spielte.
Der angesprochene Text bewegt sich in einer Grauzone zwischen Schlaf und Nicht-Schlaf. Bei mir kommt es selten vor, dass ich einen Text in einem Rutsch schreibe. In diesem Fall war der Nukleus die Zeile „Vögel nisten/ es wachsen Salvia/ und Bohnenkraut“. Der Rest hat sich nach und nach drumherum abgelagert. Und meistens kann ich es im Halbschlaf nicht verhindern, dass ich über Worte und Formulierungen nachdenke, um dann am nächsten Morgen mit zwei Zeilen mehr aufzuwachen – sofern ich mich noch an sie erinnern kann. Manchmal treiben mich meine Ideen auch um 4 Uhr nachts aus dem Bett.
Um bei dem Song zu bleiben: Wie kam bei „Tempelhof“ die eher ruhige Musik zustande?
Im vergangenen September nahm ich an einem Brecht-Abend in Dublin teil. Dort hatten sie mir einen Raum zugewiesen, in dem ein Flügel stand. In den Probenpausen komponierte ich dieses Stück. „Tempelhof“ und „Taschen“ waren die letzten beiden Lieder, die für das Album fertig wurden.
Und wie fing es an mit „Alles in Allem“? Hatte sich irgendwann soviel Material abgelagert, dass sie sich gesagt habt „Jungs, es ist genug da für ein Album“?
Nein, so war es nicht.
Sondern?
Hier kommt wieder das Schlafen ins Spiel. Ich kam im Januar 2019 aus Hongkong zurück und konnte nicht einschlafen. Da ist mir mitten in der Nacht klargeworden: „Ich muss noch ein Album mit den Neubauten machen“. Vorher stand das zwar immer mal wieder im Raum, aber ich hatte einfach nicht das dringende Gefühl, die Sache wirklich anzugehen. Dann habe ich die Kollegen gefragt, und die wollten auch alle.
Haben Sie das Geld für die Aufnahme wieder per Crowdfunding eingesammelt?
Ja. Meine Frau hatte das Crowdfunding, das bei uns „Unterstützermodell“ hieß, ja erfunden und 2002 auf www.neubauten.org die entsprechende Plattform programmiert und gebaut. Jetzt haben wir zum ersten Mal mit einem bestehenden Anbieter zusammengearbeitet, nämlich mit Patreon, was ein Mittelding zwischen Crowdfunding und Mäzenatentum ist und uns alle Bausteine liefern konnte, die wir sonst selbst hätten schreiben müssen – also alles vom Streaming bis zur korrekten steuerlichen Abrechnung. Für unsere Unterstützer hatten wir uns zum Abschluss etwas Tolles ausgedacht, nämlich ein Konzert im Gendarmenhaus in Berlin und zusätzlich noch eine Neubauten-spezifische Stadtrundfahrt. Sämtliche Festivitäten mussten wir natürlich nun absagen. Im Moment können auch wir unseren Unterstützern nur Wohnzimmerkonzerte bieten.
Wo hätte die Neubauten-spezifische Stadtrundfahrt hingeführt?
Natürlich zu den Hansa Studios, dann dorthin, wo ich herkomme, also Grazer Damm, Friedenauer Brücke, Landwehrkanal. Wir hatten schon eine ganze Liste mit Orten zusammen, die irgendwas mit unserer Geschichte zu tun haben.
„Am Landwehrkanal“ heißt auch ein neues Stück, das zu Zeiten Rosa Luxemburgs spielt. Wären Sie gerne dabei gewesen damals?
Nee. Ich bin lieber der Geist, der durch die Geschichte wandelt. Ich sage in dem Song ja auch „Ich war nicht dabei“. Für mich war nur klar, dass das Stück „Am Landwehrkanal“ heißen muss, ich wusste bloß noch nicht, was ich damit anfangen soll. Ich dachte, ich muss mich an den Kanal setzen und warten, bis die Inspiration zuschlägt. Bis Jochen (Neubauten-Gitarrist Jochen Arbeit) meinte: Da haben sie doch Rosa Luxemburg reingeschmissen.
Das ganze Album klingt recht romantisch, um nicht zu sagen: schön. Werden Sie warm mit dem Begriff?
Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Dieses Schöne war immer schon vorhanden, selbst auf unserem ersten Album gab es ein Stück wie „Sehnsucht“. Aber natürlich hat sich die Gewichtung verändert. Die Band Neubauten 3.0 spielt jetzt seit zwanzig Jahren personell unverändert zusammen. Das ist länger als irgendeine Formation von uns vorher. Die Individualität von uns allen, die macht sich natürlich auch stärker denn je bemerkbar. Und wenn es Stillstand gäbe oder die formelhafte Wiederholung des Immergleichen, dann wäre das ja doch sehr traurig.
Sie haben die Einstürzenden Neubauten als junger Mann 1980 mitbegründet. Jetzt sind Sie 61. Würde der damalige Blixa Bargeld den heutigen wiedererkennen?
Die Antwort darauf kann man fast wörtlich nachlesen in „Susej“ von unserem letzten Album „Alles wieder offen“. Dort sagt der alte Blixa zum jungen: Was bei dir vorhanden war, ist bei mir immer noch vorhanden.
Eine gewisse Punk-Attitüde hat also nichts mit Alter und Lebensumständen zu tun?
Wir sind keine Punks, und wir waren nie Punks. Die Punks waren die, die mit den Bierflaschen nach uns geworfen haben. Im Nachhinein als Punk kategorisiert zu werden, fand und finde ich immer noch ärgerlich. Ich habe zu denen einfach nie gehört.
Das neue Album wird allgemein als eine „Berlin-Platte“ bezeichnet. Die Songs heißen etwa „Grazer Damm“, „Wedding“ oder eben „Tempelhof“ und „Am Landwehrkanal“. Wie hat sich das Konzept herausgeschält? Ist es überhaupt eins?
Ich würde bevorzugen, das nicht so zu sehen. Am Anfang der Arbeit wurde ich nach dem Thema gefragt, und ich habe vorsichtig gesagt „Vielleicht hat es irgendwas mit Berlin zu tun“. Es gab zunächst ein Stück, das hieß „Welcome to Berlin“. Aufgrund mangelnder musikalischer Substanz und der Tatsache, dass es zu sehr als Kommentar missverstanden werden konnte, ist es aber nicht auf dem Album drauf. Ich wollte in dem Text auf witzige Weise meinem Zynismus Ausdruck verleihen, aber es kam rüber wie ein Protestsong, und das mochte ich nicht. Somit ist nicht nur das Stück, sondern auch das Zentrum der ganzen Berlin-Bezogenheit weggefallen. Aber zu dem Zeitpunkt hatte die Idee schon soweit Fuß gefasst, dass andere Lieder davon infiziert wurden, „Tempelhof“ etwa hatte ursprünglich mal „Pantheon“ geheißen.
Haben Sie denn viel zu meckern an Berlin?
Wenn dem so wäre, dann hätten wir dieses Stück vielleicht veröffentlicht.
Sie sind in West-Berlin geboren, haben in Peking und in San Francisco gelebt und sind jetzt seit Jahren mit Frau und Tochter wieder in Berlin ansässig. Nehmen Sie die Stadt heute anders wahr als vor Ihrem Weggang?
Ich lebe jetzt in Ost-Berlin. Daran habe ich keine Erinnerungen, die zurückreichen vor das Jahr 1990. Um in mein altes Berlin zurückzukehren, müsste ich durch den Tiergartentunnel in den Westen fahren, dort könnte ich erzählen, wo mein Zahnarzt war und wo meine erste Freundin wohnte. -
Wo leben Sie jetzt?
Im Scheunenviertel. Das ist heute die gentrifizierteste Gegend in ganz Berlin. Noch als ich aus Berlin fortzog, so 2001, 2002, sah es hier so aus, als sei der Zweite Weltkrieg letzte Woche erst zu Ende gegangen. Und heute ist es die teuerste innerstädtische Wohngegend Berlins überhaupt.
Sind Sie eher Opfer oder eher Täter der Gentrifizierung?
Weder noch. Ich bin ja hier geboren. Ich bin Berliner.
Denken Sie dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung noch in „West“ in „Ost“?
Ja. Wenn ich mit dem Auto durch die Stadt fahre, dann weiß ich genau, wo die Mauer stand. Und ich spüre den Unterschied immer noch deutlich. West-Berlin ist voll mit Erinnerungen, der Osten überhaupt nicht.
Wie kam es zu „Taschen“, einer Betrachtung über Flüchtlingsschicksale und das Mittelmeer?
Wenn wir anfangen, an neuer Musik zu arbeiten, besuchen wir früher oder später immer einen Schrottplatz, um dort ein paar Teile zu finden, die sich als Instrumente eignen. Das ist inzwischen aber enorm schwierig geworden. Es lässt einen niemand mehr auf einen Schrottplatz – aus versicherungstechnischen Gründen. Also haben wir angefangen, über alternative Materialien nachzudenken. So kamen wir auf diese blau-rot-karierten Stofftaschen, im Berliner Volksmund auch „Polenkoffer“ genannt. Wir haben die Taschen dann mit Lumpen gefüllt, und fertig war das Instrument. Alex (Bassist Alex Hacke) hat eine Sondertasche mit Münzen, Nägeln und Erbsen, auf der spielt er sein Solo. Dieses Solo klang wie der Ozean. Und so haben mir plötzlich die Dinge verraten, worum es geht.