Essen. Das Hörbuch des Jahres ist gewählt: Keine reißerische Bestseller-Vertonung, kein Harry Potter und kein Mankell, sondern mit Ringelnatz, Benn, Huchel, Kästner, Hilde Domin und vielen anderen insgesamt 120 deutsche „Lyrikstimmen", die sich hier Gehör verschaffen.

Mag der Hörbuchmarkt ein boomender sein: gegen die gewisperten Potters und haarsträubenden Mankells hat es schwer, was es immer schwer hatte: Lyrik.

Hilde Domin
Hilde Domin © ddp

Und plötzlich ist „Hörbuch des Jahres 2009" etwas, das aus 420 Gedichten besteht, aus 100 Jahre Lyrik, aus 120 Autorinnen und Autoren, allesamt unverdächtig massenkompatible Reimereien abgesondert zu haben. Ein kleines Wunder und eigentlich ein großes – nicht nur, weil es zehn Stunden lang ist.

Es war die Jury der „HR 2-Hörbuchbestenliste, die mit „Lyrikstimmen" ein Unternehmen ausgezeichnet hat, dessen Fertigstellung fünf Jahre editorischer Arbeit verzehrt hatte. Aber es kann nicht von der Belohnung einer Fleißarbeit die Rede sein. Hier hat ein unglaublich ambitioniertes Projekt (geführt von Peter Hamm, Christiane Collorio, Harald Hartung und Michael Krüger) poetischen Geist der letzten 12 Jahrzehnte auf ganz besondere Weise eingefangen.

Es sind nicht die Silberzungen, die hier Atem holen, um raunende Interpretationen zu bieten oder, wie Katia Mann es nannte, „des Dichters oberster Mund" zu sein. Es sind ausschließlich die Schöpfer dieser zerbrechlichsten aller Literaturen, die in „Lyrikstimmen" selbst zu Wort kommen.

Gedichte sterben nicht aus

Da dröhnen, noch aus den Schalltrichter-Zeiten des Grammophons, Joachim Ringelnatz' sächselnde Kuttel Daddeldu-Abenteuer. Und gleich darauf staunt man über das wie gestanzte Sendungsbewusstsein eines Gottfried Benn. Peter Huchel, dieser weltwunde Koloss, geht mit größter Zartheit durch den dunklen Garten seiner Poesie. Doch selbst wenn Hilde Domins nachgerade piepsige Stimme nie und nimmer die beste Deuterin ihrer Verse war: dass sie es ist, sie, die sie schuf, hat einen Zauber, der für sich steht.

Aber dieser Zauber ist nur ein Teil des Eindrucks, den das Hören und Wiederhören dieser ausgegrabenen Archivschätze schafft. Der andere ist auf anziehende Weise gespenstisch: So viele Tote, die sprechen: Das Unvergängliche, das Gedicht, aus dem Munde derer, die wussten, dass es bestenfalls ihre Texte sind, die überleben.

Aber es gibt ja nicht nur sie, nicht nur Kästner und Brecht, Hesse und Zweig, Bobrowski und Bachmann. Mit großer Gewissenhaftigkeit haben die Herausgeber Neuen Raum gelassen, Ost wie West, waghalsiger Chiffrensprache wie juxiger Reflexpoesie. Das jüngste Gedicht ist von 2007. „Dran glauben" heißt es – zum Beispiel daran, dass Gedichte nicht aussterben. Diese Liebhaber-Ausgabe ist sein Zeuge.

Lyrikstimmen, 9 CD, 638 Minuten Originaltöne, der hörverlag, ca. 49 Euro