Essen. Der ägyptische Schriftsteller Alaa Al-Aswani sieht im Ausgang der Schweizer Volksabstimmung über Minarette eine Mahnung: Die Vertreter des gemäßigten, liberalen Islams müssten Europa den "wahren Islam" erklären und gegen die enstirnigen Wahabiten auftreten.

Die Schweizer haben den Bau von Minaretten mit klarer Mehrheit verboten. Was bedeutet die Entscheidung?

Alaa Al-Aswani: Ich bin nicht überrascht. Ich war erst kürzlich in der Schweiz zu einer Lesung. Es ist falsch, zu denken, die Hälfte der Bürger seien Rassisten. Sie haben vielmehr Angst vor einer Religion, von der sie praktisch nichts wissen, und die in den Medien nur mit Terrorismus und Bomben in Verbindung gebracht wird. Zudem wird das Bild des Islam in Europa sehr geprägt von der wahhabitischen Strömung aus Saudi-Arabien, die extrem engstirnig und aggressiv ist. Wir übrigen Muslime haben bei der Aufgabe versagt, das wirkliche Gesicht des Islam zu vermitteln, seine Toleranz und seine Offenheit.

Ist die Entscheidung ein Indiz für wachsende anti-islamische Ressentiments?

Alaa Al-Aswani: Wir müssen diese Abstimmung sehr ernst nehmen. Die Schweiz ist ein multikulturelles Land im Herzen von Europa. Hier leben Menschen in vier Sprachen zusammen. Die Schweiz ist eine vorbildliche Demokratie. Insofern zeigt das Votum klar, wie die Menschen in Europa inzwischen denken. In Deutschland hätten noch mehr Leute gegen Minarette gestimmt.

Was müssen die Muslime besser machen?

Alaa Al-Aswani: Man kann von niemandem in Europa erwarten, dass er sich genaue Kenntnisse über den Islam aneignet. Wie der Islam in der Welt wahrgenommen wird, das ist unsere Verantwortung. Ich habe den Mufti von Ägypten vor Wochen aufgefordert, einen Professor für islamische Zivilisation in die Schweiz zu schicken, damit er den Menschen dort die Bedeutung des Minaretts erklärt. Minarett bedeutet im Aarabischen „Ort des Lichts”, es ist kein Kriegssymbol und hat nichts mit Gewalt zu tun.

Was war die Reaktion des Muftis?

Alaa Al-Aswani: Nichts. Er hat einen Beobachter für das Referendum entsandt, der Mann traf am Sonntag in der Schweiz ein – sozusagen nach der Abstimmung. Zum Referendum gab es ein Plakat mit Minaretten als Raketen und mit einer Frau, die voll verschleiert ist. Wir müssen dem Schweizer Volk erklären, dass die Verschleierung von Frauen nichts mit dem Islam zu tun hat. Das sind Traditionen aus der Wüste. Der Islam hat Frauen niemals vorgeschrieben, ihr Gesicht zu verdecken.

Wie soll diese Aufklärung Europas stattfinden? Mehr Zentren für islamische Kultur, mehr Institute für interreligiösen Dialog?

Alaa Al-Aswani: Wenn das die arabischen Regierungen machen, wird daraus nichts. Sie sind viel zu bürokratisch und korrupt. Es gibt ja schon viele Moscheen und muslimische Zentren in Europa, aber die sind dominiert von wahhabitischen Strömungen und finanziert von saudischem Ölgeld. Wes Geld ich nehm, des Lied ich sing. Der moderate Islam aber ist der wirkliche Islam. Wir haben viel Arbeit vor uns. Wir können nicht erwarten, dass wohlmeinende Europäer sich um das Image des Islam kümmern. Das müssen wir selbst tun, die Intellektuellen, die Nichtregierungsorganisationen und Einrichtungen wie die Al-Azhar-Universität in Kairo.

Was tut die Al-Azhar-Universität, jahrhundertelang einflussreichstes Zentrum islamischer Gelehrsamkeit?

Alaa Al-Aswani: Entschieden zu wenig, die viel zu enge Verbindung von Al-Azhar mit der ägyptischen Regierung hat die Hochschule langsam und ineffizient gemacht. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert war sie ein Zentrum des offenen Islam, und Ägypten eine offene Gesellschaft. Bei uns gab es das erste Kino, die erste Frau im Parlament, wir hatten als erstes muslimisches Land das Frauenwahlrecht. Die große Wende kam Anfang der achtziger Jahre: Da hieß es plötzlich aus der saudischen Ecke, eine Frau als Schauspielerin oder Sängerin, das sei gegen die Religion. Heute gibt es in Ägypten 17 saudische TV-Kanäle, die jeden Tag diesen engstirnigen Islam propagieren. Wenn Sie vor 30 Jahren in Ägypten gesagt hätten, Frauen sollten ihr Gesicht verdecken, hätte man Sie ausgelacht.

Arzt und Bestsellerautor

Alaa Al-Aswani ist von Beruf Zahnarzt. Er wurde 1957 in Kairo geboren und studierte in Chicago. Er bekam unter anderem 2007 den Bruno-Kreisky-Preis und 2008 den Coburger Rückert-Preis. Er lebt in Kairo. Bekannt wurde er 2002 durch seinen Roman „Der Jakoubijan-Bau”. Das Werk zeichnet einen Mikrokosmos der ägyptischen Gesellschaft, die von Unterdrückung und Machtmissbrauch geprägt ist. Das Buch wurde in der arabischen Welt zum Bestseller. Ins Deutsche übersetzt erscheinen Al-Aswanis Bücher im Lenos Verlag – in der Schweiz.