Mülheim an der Ruhr. Der große Theaterregisseur Roberto Ciulli wird 85 Jahre alt. Ein Gespräch über das Alter, unsere Spezies, die Seenotrettung und neue Projekte.

Der Unterschied zwischen Wissen und Glauben wiegt im Falle dieses 1. April schwer. Wir wissen, dass Roberto Ciulli, Erfinder des Theaters an der Ruhr, 85 wird. Glauben können wir es kaum. Federnden Schrittes empfing der Theatermann Lars von der Gönna zum Geburtstagsgespräch.

Sie werden 85. Was ist Ihr erster Gedanke beim Blick in den Spiegel?

Roberto Ciulli: Ich bin überrascht, dass ich noch da bin. Wenn ich die Jahrgänge der Todesanzeigen in der WAZ sehe, weiß ich, dass das nicht selbstverständlich ist.

Was empfinden Sie?

Dankbarkeit. Ich weiß, dass ich ein sehr privilegierter Mensch bin, obwohl ich in Deutschland als Gastarbeiter angefangen habe. Ich komme aus einer wohlhabenden Familie, durfte studieren, viel lesen, großartige Menschen treffen, über 60 Jahre, davon 55 Jahre in Deutschland, Theater machen. Das ist Luxus, der vielen Menschen nicht geschenkt ist.

Was war und ist Ihr Theater-Motor? Wut, Sehnsucht oder Delphis Orakel: Erkenne dich selbst?

Erkenne dich selbst! Aber das ist es doch für jeden, ob er Theater macht oder nicht. 60, 70, 80 Jahre haben wir Zeit herauszufinden, wer wir sind. Wir sind ja alle zunächst nur das Produkt eines Zufalls, einer sexuellen Laune. Die zentralere Frage als „Wer bin ich?“ ist doch „Wer will ich sein?“ Kunst entsteht aus Verletzungen, aus Not. Das Theater war und ist für mich Widerstand und vor allem der Ort, wo denjenigen eine Stimme geben wird, die sie nicht haben.

Kommt man darin je ans Ziel?

Als junger Regisseur habe ich mir Ziele gesetzt, sie auch erreicht und dachte: „Geschafft!“ Ein Irrtum. Die Not, die Verletzung, aus der heraus Kunst entsteht, kann nicht abgeschafft werden, sie hinterlässt – ganz im Gegenteil – immer mehr das Gefühl des Scheiterns und schafft so von neuem Not.

Zur Person

Der Kunst begegnet Roberto Ciulli als Kind durch eine kino-verrückte Mutter. Sie nimmt ihn mit in Filme für Erwachsene. Der Mailänder studiert Philosophie, seine Doktorarbeit gilt Hegel.

Bevor Roberto Ciulli 1980 in Mülheim mit dem Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben und dem Dramaturgen Helmut Schäfer das Theater an der Ruhr gründet, war er Schauspieldirektor in Köln.

Welchen Stein rollt Sisyphos Ciulli in dieser Zeit den Berg hinauf?

Die Frage: Wohin geht es mit diesem Homo sapiens? Er treibt dem Ende seiner Spezies zu.

Sehr pessimistisch...

Eher realistisch, angesichts dieser Masse von Hass, die aktuell unter den Menschen herrscht, die Wohlstands-Schere durch die Gier der wenigen Reichen und das unmenschliche Verhalten gegenüber der Migration.

Was macht diese hässliche Welt mit Ihnen als Theatermacher?

Ich beobachte, dass Menschen einen zentralen Wert verloren haben: Scham. Es muss wieder gelingen, dass Menschen sich schämen. Seit Jahren sterben im Mittelmeer Tausende von Menschen. Heute denkt man, dieses Problem zu lösen, indem man die Rettung dieser Menschen an die Küstenwache Libyens delegiert hat, obwohl es von der Uno dokumentiert und bewiesen ist, dass die libysche Küstenwache die Menschen ertrinken lässt oder sie in Gefängnisse zurückbringt, wo sie wieder versklavt und gefoltert werden um von ihren Familien erneut Geld zu erpressen. Eines Tages werden die europäischen Staaten sich für dieses Verhalten verantworten müssen und es wird schwierig sein für uns Europäer zu behaupten: „Ich habe es nicht gewusst.“

Ist das auch ein Theaterstoff?

Bei einem dieser Ertrunkenen fand man ein in die Jacke eingenähtes Schulzeugnis. Er wollte es vor den Schleppern und Folterern verbergen. Ein Zwölfjähriger glaubte an ein Europa, in dem man mit einem guten Zeugnis willkommen ist! Im Grunde ein Europa des Geistes von Kant, Montaigne und Voltaire. Aber wir haben das Europa von Orban, Salvini, Gauland. Das beschämt mich zutiefst. Das wird das Thema meines nächsten Projekts.

Sie sind in Mailand geboren, leben seit 40 Jahren an der Ruhr. Was ist deutsch an Ihnen, Herr Ciulli?

Vieles! Pünktlichkeit! Ich bin der pünktlichste Italiener der Welt. Aber so wie sich die Bahn entwickelt, ist das ja keine deutsche Tugend mehr. Insofern bin ich schon wieder ein Fremder. Meine Mutter liebte die Deutschen, sie waren das Größte für sie: leider in einer dunklen Phase der Geschichte. Aber sie verehrte alles, was damals deutsch war: Disziplin, eiskalte Luft im Schlafzimmer, um abzuhärten, und dass ein Mann nicht weint.

Nicht Ihre Lieblingstugenden...

Natürlich nicht. Das Wichtigste ist meine Liebe zur deutschen Sprache. Darum bin ich wahrscheinlich hier. Die deutsche Sprache drückt Gedanken und Emotionen unglaublich präzise aus. In diese Sprache habe ich mich verliebt.

Es gibt wenige Theater auf der Welt, die so an eine Person geknüpft sind. Mögen Sie ein langes Leben haben, aber was wird danach aus dem Theater an der Ruhr?

Ich habe meine Idee von Theater realisiert: Kunst abseits verkrusteter Stadttheaterstrukturen, in denen man viel zu oft gegen den Apparat ankämpfte. In einem Riesen-Betrieb, in dem es extrem pluralistisch zugeht, setzt sich meistens das Mittelmaß durch. Mein Ziel war ein Gegenentwurf – und dieses Theater an der Ruhr hat hoffentlich ein längeres Leben als Roberto Ciulli. Es wird seinen Weg finden, da bin ich sicher.