Essen. Was wäre eine Artikelserie über Familienunternehmen des Ruhrgebiets ohne die Brüder Albrecht? Unvollständig, natürlich. Andererseits: Seit Jahrzehnten muss jeder Artikel über das Unternehmen Aldi ohne die Brüder Albrecht auskommen: Sie sagen nichts, und sie lassen sich nicht fotografieren.

Als Albrecht noch ein Tante-Emma-Laden war: Filialleiterin Helga Galinnis (links) und ihre nur wenig jüngere Azubine, damals noch Lehrling genannt. (c) RuhrRevue
Als Albrecht noch ein Tante-Emma-Laden war: Filialleiterin Helga Galinnis (links) und ihre nur wenig jüngere Azubine, damals noch Lehrling genannt. (c) RuhrRevue © Matthias Duschner

Es gibt nur wenige Veröffentlichungen über die Albrechts; in Zeitungsartikeln wird notgedrungen manches voneinander abgeschrieben – auch Unklares und Falsches. Aber weitgehend einig ist man sich doch, dass die Geschichte des Supermarkt-Imperiums Aldi 1913 in Schonnebeck begann – das ist ein vom Bergbau geprägter Vorort Essens, der damals noch Teil der Bürgermeisterei Stoppenberg war. Karl Albrecht, Vater der später so reich gewordenen Albrecht-Brüder, war Bergmann. Vieles spricht dafür, dass er auf den Schonnebecker Zollvereinschächten 3/7/10 anfuhr, die lagen am nächsten. Möglich auch, dass er jeden Tag bis „Friedrich Joachim“ lief oder nach Kray zu „Bonifacius“.

In jedem Fall musste Karl Albrecht den Bergmannsberuf früh aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Er fand mehr schlecht als recht bezahlte Arbeit in einer Brotfabrik. Vermutlich handelt es sich um die Brotfabrik Stauffenberg, die heute im Nachbarort Gelsenkirchen-Rotthausen produziert – auch für Aldi, einen der größten Stauffenberg-Kunden.

Albrechts Kolonialwaren

Karls Frau Anna, so lesen wir, habe dann zusätzlich ein kleines Lebensmittelgeschäft gegründet. Wenn es tatsächlich Anna war, die das Geschäft betrieb, so tat sie es aber wohl unter dem Namen ihres Mannes. Welches genau das erste Albrecht-Geschäft war, bleibt undeutlich. Im Essener Adressbuch tauchen die Albrechts 1930 auf, nach der Eingemeindung Schonnebecks. „Karl Albrecht, Kolonialwaren“ steht da, mit der Adresse „Otto-Hue-Str. 89“, benannt nach dem Gewerkschafter. Zu NS-Zeiten lautet die Geschäftsadresse „Richthofenstraße 89“. Im Mai 1945 kommt der Gewerkschafter wieder zu Ehren, diesmal ohne Vornamen. Die Adresse des Geschäfts ist nun „Huestraße 89“, und dort findet sich noch heute ein schlichter Aldi-Laden. Ob es tatsächlich das allererste Albrecht-Geschäft von 1913 ist, bleibt im Nebel. Manche Autoren behaupten, es sei das zweite, größere Geschäft – eröffnet erst von den jungen Albrecht-Brüdern. Letzteres ist offensichtlich falsch, aber vielleicht haben die Eltern es schon vor 1930 als zweiten Laden betrieben.

Wie es damals bei Albrechts im Geschäft und daheim zuging, darüber scheint es keinerlei schriftliche Zeugnisse zu geben. Man weiß gerade mal, dass 1920 und 1922 die Söhne geboren wurden – zuerst Karl Hans Albrecht, zwei Jahre später Theodor Paul Albrecht. Nach der Schule macht Karl eine Lehre beim – noch heute existierenden – Feinkostgeschäft Weiler in Essen, während Theodor, genannt Theo, sich im elterlichen Geschäft zum Kaufmann heranbildet. Beide ziehen als einfache Soldaten in den Krieg; den einen verschlägt es nach Afrika, den anderen an die Ostfront. Zurückgekehrt, übernehmen sie das Geschäft der Mutter und erweitern es. 1948 schon, im Jahr der Währungsreform, beginnen sie daraus eine kleine Filialkette zu formen. 1950 gehören 13 Läden dazu.

Als sich 1948, „noch vor der Währung“, die 18-jährige Helga Galinnis mit abgeschlossener Lehre bei Albrecht in der Schonnebecker Huestraße vorstellt, geben dort schon Karl und Theo den Ton an. Karl ist es, der sie sofort als „Jungverkäuferin“ einstellt. Nach einem halben Jahr steigt sie schon zur Filialleiterin auf. Für 300 statt 120 Mark monatlich führt sie ein kleines Albrecht-Geschäft an der Ecke Saatbruchstraße/ Nachbarnweg, nur ein paar Gehminuten vom Hauptgeschäft entfernt. „Ich war sehr stolz“, sagt sie 61 Jahre später, denn immerhin war sie ja blutjunge Anfängerin.

Typisch Tante Emma

Helga Galinnis malt Preise auf die Fensterscheibe ihrer kleinen Albrecht-Filiale in der
Helga Galinnis malt Preise auf die Fensterscheibe ihrer kleinen Albrecht-Filiale in der "katholischen" Schonnebecker Saatbruchstraße. (c) RuhrRevue

Das Geschäft „war ein richtiger Tante-Emma-Laden, sehr klein.“ Aber sie habe etwas draus gemacht – zum Beispiel aktuelle Preise als Blickfang auf die Fenster gemalt. Aber bald nachdem Helga Galinnis 1952 Günther Schimanski heiratet und ihre Stelle aufgibt, wird das kleine Geschäft geschlossen. Ob es der allererste, kleine Laden der Albrechts war? Helga Schimanski weiß es nicht genau. Ihr Mann, waschechter Schonnebecker, hätte es gewusst. Er ist vor drei Jahren gestorben.

Und wie war es damals bei den Albrechts? Jedenfalls seien beides normale Lebensmittel-Läden gewesen. Vom Aldi- Prinzip hat Helga Galinnis noch nichts gemerkt, wenn die beiden Brüder auch sparsam waren, „die haben schon auf den Pfennig gesehen.“ So habe es in ihrem kleinen Laden zwar ein Öfchen gegeben, aber im Winter keine Kohlen. „Ziehen Sie sich dick an“, habe Theo gesagt. Ihr Verlobter habe dann schon mal einen Eimer Kohlen vorbeigebracht. Theo sei überhaupt im Umgang etwas schwierig gewesen. Er wohnte nur einen Steinwurf von dem Filialladen entfernt, und wenn Helga Galinnis krank wurde, sprang Theos Frau schon mal ein. Aber als seine Angestellte an einem Tag üble Zahnschmerzen hatte, ließ Theo Albrecht sich nicht erweichen – sie musste weiterarbeiten.

Insgesamt lässt Helga Schimanski nichts auf ihre damaligen Chefs kommen. Wenn sie von Karl Albrecht spricht, gerät Helga Schimanski fast ins Schwärmen: „Das war ein sehr guter Chef.“ Sie erinnert sich an einen Tag, da die Verkäuferinnen Wein aus einem Fass auf Flaschen füllten; „ich hab immer die Korken reingedrückt.“ Natürlich habe sie keinen Tropfen getrunken, aber trotzdem sei sie am Ende richtig benebelt gewesen. „Karl hat das bemerkt – und hat mich sofort mit seinem Auto nach Altenessen heimgefahren.“ Und als die Leute aus der „katholischen Saatbruchstraße“ sich erst weigerten, bei einer Nicht-Katholikin zu kaufen – „das sprach sich rum“ –, da hielt Karl Albrecht zu ihr: ��Die werden schon kommen.“ Das, obwohl Albrechts selbst „streng katholisch“ gewesen seien.

Mit Theo per Du

Mit ihren Filialen dehnen sich die Albrecht-Brüder über das Ruhrgebiet und weiter aus; sie selbst bleiben noch auf den Arbeiterstadtteil Schonnebeck konzentriert. Die Zentrale des „Karl Albrecht Lebensmittelfilialbetriebs“ (Adressbuch 1954) entsteht in der Gerhardstraße 3, ein paar hundert Meter vom Ur-Geschäft entfernt. Die Gebäude dienen später als Zweigniederlassung und stehen heute noch, gehören aber nicht mehr zu Aldi. Karl Albrecht junior wohnt laut Adressbuch mit seiner Mutter in der Huestraße 89, Bruder Theo gleich um die Ecke, in der Saatbruchstraße 2.

In jenen Jahren hätten die Albrechts in Schonnebeck richtig dazugehört, sagt Helga Schimanski. Karls Hochzeit und die Geburt seines ersten Sohnes waren Ereignisse, an denen man teilhatte. „Wir waren auch noch auf Theos Verlobung.“ Aber Theo habe sich damals schon distanziert. Irgendwann übernahm Günther Schimanski, dessen Familie eine Kartoffelhandlung hatte, für Albrechts mal eine Lastwagen-Fuhre. „Stell dir vor“, sagte er anschließend zu seiner Verlobten, „der Theo hat mich gesiezt.“ Dabei waren Günther und Theo in einer Schulklasse gewesen. „Theo, du kannst ruhig noch du zu mir sagen“, war die Antwort des Klassenkameraden. Vermutlich nicht zufällig ist Theo Albrecht dann als erster weggezogen – und das gleich in eine ganz andere Welt.

Das Geschäft der Albrechts ist da schon in einem Maß profitabel, das in krassem Gegensatz zur proletarischen Umgebung Schonnebecks steht. Und als die Brüder sich schließlich nach einer passenden Wohnlage umsehen, sparen sie sich Umwege über bürgerliche Wohnviertel, machen gleich Nägel mit Köpfen. Das Adressbuch 1955 verzeichnet „Theodor Albrecht, Kaufmann“ in der Essen-Bredeneyer Westerwaldstraße – dort entsteht ein Viertel mit den Villen derer, die das Wirtschaftswunder nach ganz oben getragen hat. 1957 kann man im Adressbuch lesen, dass „Karl Albrecht, Kaufmann“ am Hackenberghang wohnt, in einem abgelegenen und per Privatstraße erschlossenen Viertel beim Essen-Mülheimer Flugplatz. Die Siedlung mit Blick auf das Ruhrtal erinnert an eingezäunte „gated communities“ in Amerika, und man zögert, sie schön zu nennen. Aber zweifellos ist, wer sich dort 1957 niederlässt, reich. 1960 gibt es 300 Albrecht-Läden in Deutschland.

Preis ist die Werbung

Essen-Schonnebeck, Huestraße 89: Das ist zweifellos der älteste Albrecht-Laden unter mittlerweile 9000 Geschäften weltweit. (c) RuhrRevue
Essen-Schonnebeck, Huestraße 89: Das ist zweifellos der älteste Albrecht-Laden unter mittlerweile 9000 Geschäften weltweit. (c) RuhrRevue © Matthias Duschner

Noch zu Schonnebecker Zeiten, 1953, beschreibt Karl Albrecht vor Kollegen im Lebensmittelverband, was offenbar damals schon als eine außerordentliche Erfolgsgeschichte angesehen wird. Es wird die letzte öffentliche Erläuterung der Albrechts zu ihren Geschäften sein. Das beschränkte Warenangebot, erklärt Karl Albrecht da, sei anfangs noch keine Strategie gewesen, sondern das Ergebnis knapper Finanzen: Die Albrechts sparen, weil sie Geld zum Aufbau der ersten Filialen brauchen: „Wir wollten unsere Filialen dann wie ein normales Einzelhandelsgeschäft mit einem breiten Lebensmittelsortiment eindecken.“ Sie tun es dann doch nicht, weil sie merken, dass auch so ein gutes Geschäft zu machen ist. Um die Kunden aber zu binden, führen die Brüder 1950 ein zweites Prinzip ein: „Wollten wir dem Kunden keine Auswahl bieten, so mussten wir ihm zumindest einen anderen Vorteil einräumen. Wir verkauften von der Zeit an unsere Ware entschieden billiger.“ Discount.

Kosten für Reklame halten Albrechts schon damals gering: „Unsere ganze Werbung liegt im billigen Preis.“ Zwar wird der Kunde bedient, aber Karl Albrecht gibt 1953 offen zu, „dass es sich nicht um ein normales Bedienen handelt, sondern um Massenabfertigung.“ Damit ist schon das ganze Albrecht-Prinzip beschrieben, nur dass man später nicht mehr „billig“ sagt. Und natürlich fehlt noch die Selbstbedienung.

Von den neuen Wohnadressen abgesehen sind Albrechts weit davon entfernt, ihren Wohlstand oder ihr Privatleben öffentlich vorzuführen, so wie das nicht wenige der neuen „Wirtschaftskapitäne“ im Nachkriegsdeutschland unbefangen tun. Obwohl sich die Lebensmittelkette über das ganze Land ausbreitet und die Albrechts immer wohlhabender werden, weiß sich niemand so recht ein Bild von den Personen zu machen. Hochzeiten, Kinder, Parties, Reisen – nichts davon findet sich in den Illustrierten wieder. Offenbar gibt es in jenen Zeiten ein Gleichgewicht: Wenn sich jemand nicht exponiert, dann wird er auch nicht belästigt. Dass die Läden der Albrechts wenig spannend sind, mag dazu beigetragen haben, dass man so viel gar nicht über die Besitzer wissen wollte.

Ein Geniestreich in Sachen Diskretion ist, dass 1962 in Dortmund der erste moderne Discount-Laden der Albrechts unter einem neuen Kürzel auftritt: Al-Di. Anfangs weiß noch jedermann, dass die vier Buchstaben für Albrecht Discount stehen. Und weil das so lustig klingt, kann es einem Knaben, der auf den Vornamen Albrecht getauft ist, in jenen Jahren passieren, dass er lange mit dem Spitznamen Aldi herumlaufen muss. Allmählich aber gerät die Bedeutung der Marke bei den meisten Leuten in Vergessenheit – für die Albrechts wird es um so leichter, sich vollkommen im Hintergrund zu halten.

Die deutsche Teilung

Auch die Zentrale des „Karl Albrecht Lebensmittelfilialbetriebs“ saß während der fünfziger Jahre noch im vertrauten Essen-Schonnebeck. (c) RuhrRevue
Auch die Zentrale des „Karl Albrecht Lebensmittelfilialbetriebs“ saß während der fünfziger Jahre noch im vertrauten Essen-Schonnebeck. (c) RuhrRevue © Matthias Duschner

Das Jahr vor dem Erscheinen der neuen Aldi-Marke, 1961, geht in die Geschichte ein, weil Deutschland durch Mauer und Stacheldraht vollends zweigeteilt wird, in Ost und West. Im gleichen Jahr aber ziehen die Albrecht-Brüder einen weiteren Trennungsstrich. Warum genau, das weiß man nicht, aber Karl und Theo haben beschlossen, von nun an getrennte Wege zu gehen. Theo übernimmt den Norden des Landes, Karl den Süden. In vielen Dingen wie dem Einkauf machen sie allerdings weiterhin gemeinsame Sache, und für die meisten Kunden bleibt Aldi einfach Aldi – bis auf jene, die in der Nähe der sagenhaften Grenze wohnen, die besonders im Ruhrgebiet keineswegs einfach von Ost nach West läuft.

Bei uns nämlich verläuft der „Aldi-Äquator“ vorwiegend von Norden nach Süden. Er beginnt an der holländischen Grenze westlich von Borken, erreicht das Ruhrgebiet bei Dorsten, trennt Bottrop säuberlich von Gladbeck und Gelsenkirchen, Essen von Oberhausen und Mülheim, Velbert und Mettmann von Ratingen – und erst südlich von Solingen wendet er sich endlich tatsächlich mehr oder minder klar nach Osten. Die verwirrende Folge: Velbert gehört wie Essen zu Aldi Nord, Oberhausen und Bottrop gehören wie Mülheim zu Aldi Süd.

Essen und Mülheim sind die Hauptstädte der Imperien. Theo Albrecht etabliert die Zentrale von Aldi Nord in Essen-Kray, kaum zwei Kilometer von Schonnebeck entfernt. Karl Albrechts Aldi Süd residiert in Mülheim-Styrum. In den ersten Jahren sind sich wohl die wenigsten Kunden der Grenze bewusst. Später, als die Aldis sich optisch und im Warenangebot stärker zu unterscheiden beginnen, spielt es für hingebungsvolle Schnäppchenjäger eine große Rolle, auf welcher Seite des Äquators sie sich befinden.

1971 wird Theo Albrecht brutal aus seinem abgeschiedenen Dasein gerissen. Der verkrachte und verschuldete Rechtsanwalt Heinz-Joachim Ollenburg – er soll über das Thema „Die Entwicklung der Selbstbedienung in Deutschland“ promoviert haben – ist auf die Idee gekommen, sich mit einer gigantischen Selbstbedienung auf Kosten Theo Albrechts ein für alle Mal zu sanieren. Mit Hilfe des Panzerknackers Paul Kron („Diamanten-Paul“) setzt er den Plan in die Tat um. Am 29. November halten die beiden Theo Albrecht ihre Pistolen vor die Nase, als er vor der damaligen Hertener Hauptverwaltung in sein Auto steigen will. Weil ihnen der Anzug des Firmenchefs verdächtig billig vorkommt, lassen sie sich erst mal seinen Ausweis zeigen – um sicherzugehen, dass sie nicht versehentlich einen Buchhalter erwischt haben. Dann halten sie ihn für eine Nacht in einer Garage fest und anschließend noch über zwei Wochen lang in Ollenburgs Kanzlei, mitten in Düsseldorf.

Phantombrüder

In Verhandlungen mit dem Entführten und der Familie Albrecht „einigt“ man sich auf ein Lösegeld von sieben Millionen Mark; die Täter haben zeitweise wohl von hundert Millionen phantasiert. Aber auch mit sieben Millionen ist dies eine Entführung, die in Deutschland alle Maßstäbe sprengt. Die Polizei hält still, aus Furcht um das Leben des Entführten. Ruhrbischof Hengsbach übernimmt auf Wunsch der Familie die Lösegeldübergabe, auf einem Feldweg bei Breitscheid. Theo Albrecht kommt frei. Trotz manch skurriler Details war die Entführung sicher ein Alptraum, und man kann nur ahnen, wie Theo Albrecht die erzwungene Nähe zu den Unbekannten gequält hat. Davon abgesehen, ist schwer zu sagen, was ihn mehr schmerzt – der Verlust des Geldes oder die öffentliche Aufmerksamkeit. So wird nach seiner Freilassung ein Foto von dem 49-Jährigen geschossen, das dann immer wieder abgedruckt wird.

Vom Lösegeld bekommt er einige Jahre später die Hälfte zurück. Den öffentlich geäußerten Wunsch, dass „der ganze Rummel“ bald endlich vorbei sein und nichts mehr über seine Entführung berichtet werden möge, erfüllt er sich selbst, indem er sich noch mehr ge-gen die Außenwelt abschottet. Bruder Karl tut es ihm gleich. Kurios, dass sie trotzdem noch viele Jahre lang mit voller Adresse im Essener Adressbuch stehen. Aber ob sie in jenen Villen tatsächlich noch wohnen, wo sie andere Wohnsitze haben und wo sie sich jeweils gerade aufhalten, das wird mit den Jahren immer ungewisser. Karl und Theo Albrecht werden zu Phantomen, und Journalisten schreiben aus lauter Verzweiflung, wie sie in Essen-Bredeney, im Badischen (Karl) und auf der Insel Föhr (Theo) nichts finden und niemanden, der über die Brüder als Nachbarn klatschen mag. 1987 gelingt es einem Fotografen nach langem Lauern, beide in Paparazzo-Manier mehr schlecht als recht zu fotografieren. Das ist alles.

Aldi wird trendi

Von diesem Gebäude in Essen-Kray aus wird das Aldi Nord-Imperium gesteuert. (c) RuhrRevue
Von diesem Gebäude in Essen-Kray aus wird das Aldi Nord-Imperium gesteuert. (c) RuhrRevue © Matthias Duschner

Zu Zeiten der Entführung gelten Aldi-Läden noch als Orte, die man nur ansteuert, wenn man muss. Wer auf sich hält, lässt sich nicht gern dabei beobachten, wie er beim Aldi Zucker, Nudeln und Dosentomaten aus Pappkartons greift. Das beginnt sich in den achtziger Jahren zu ändern. Vielleicht liegt es an Studenten, die mit Aldi magere Bafög-Zeiten durchgestanden haben; jedenfalls bekennen sich mehr und mehr gutsituierte Menschen zu Aldi. Dass die Qualität trotz niedriger Preise und fehlender Prestigemarken stimmt, spricht sich herum. Dass es sinnvoll sei, bei Aldi wenigstens Vorratsartikel zu kaufen, wird zur Binsenweisheit.

Und dann wird Aldi sogar schick, zumal das Sortiment um einige Produkte erweitert wird, die man auch als Trendsurfer gut gebrauchen kann. Zeitweise scheint es so, als könne man niemanden mehr mit Anstand bewirten ohne den guten Aldi-Champagner oder das Super-Olivenöl – wobei es durchaus comme il faut ist, nebenher auf den phantastisch niedrigen Preis hinzuweisen. Zum Thema, wie man bei Aldi einkauft und was man aus den erstandenen Lebensmitteln kochen kann, erscheint eine Flut von Büchern wie „aldidente“. Eine bessere Werbung können sich die Brüder gar nicht wünschen. Und sie heizen den „Kult“ weiter an. Durch „Non Food“-Artikel, die nur wenige Tage lang verkauft werden zum Beispiel. Um die Jahrtausendwende stehen Kunden frühmorgens Schlange für den neuesten Aldi-Computer und werden schon mal rabiat, wenn ihnen der letzte zu entgehen droht. Die enggedruckten Anzeigen „Aldi informiert“ sind für manche Leute das Wichtigste an ihrer Zeitung.

Kritiker beklagen sich bald über die Ausbreitung der Schnäppchen-Mentalität, über die „Aldisierung“ des Landes. Es ändert nichts. Obwohl die Discounter-Idee mehr und mehr Konkurrenten auf den Plan ruft, wächst das zweigeteilte Aldi-Reich. Aldi Süd hat heute rund 1700 Geschäfte in Deutschland, Aldi Nord 2500. Nach und nach taucht Aldi auch in euro¬päischen Ländern auf, in den USA und selbst in Australien. Ob ein Land von Aldi Süd erobert wird oder von Aldi Nord, hängt von der Unternehmenslust der jeweiligen Gesellschaft ab und wird vorweg nicht abgesprochen. Wer zuerst da ist, mahlt zuerst. Heute liegt eine knappe Mehrheit der 9000 Aldi-Geschäfte außerhalb Deutschlands.

Alles nur geschätzt

Was sich südlich des Aldi-Äquators tut, wird in diesem Mülheimer Verwaltungsbau entschieden. (c) RuhrRevue
Was sich südlich des Aldi-Äquators tut, wird in diesem Mülheimer Verwaltungsbau entschieden. (c) RuhrRevue © Matthias Duschner

Obwohl die beiden Aldi-Gesellschaften oft gemeinsam auftreten und handeln, etwa als Einkäufer, entwickeln sie sich doch unterschiedlich. Aldi Süd beginnt früher und stärker, das knappe Angebot zu erweitern, um Frischware etwa, Textilien und Computer. Auch werden im Süden neue, großzügigere Filialen gebaut, während man im Norden stärker an den kleinen, schlichten Läden mitten in den Stadtvierteln festhält – bestes Beispiel ist der Ur-Laden in der Schonnebecker Huestraße. Wenn Wirtschaftsmedien geschätzte Umsatzzahlen veröffent¬lichen, wie das „Manager Magazin“ vor einigen Wochen, liegt Theo Albrechts Nord-Reich beim Umsatz etwas zurück, obwohl es mehr Filialen betreibt. Manchmal wird ihm vorge¬worfen, das Sparprinzip zu übertreiben und damit zu ruinieren. Nord-Freunde wiederum fürchten, dass der Süden sich allzu weit vom erfolgreichen Grundprinzip entferne. Tatsache ist, dass Aldi in Deutschland am Ende möglichen Wachstums angelangt scheint; es gibt sogar Umsatzrückgänge. Im Ausland dagegen ist das anders, und deshalb forcieren beide Unternehmen dort die Expansion.

Im übrigen gilt nach wie vor für alle Beobachter der beiden Reiche: Nichts Genaues weiß man nicht. Man weiß, dass Nord und Süd jeweils in über 30 Regionalgesellschaften aufgeteilt sind, zum Ärger aller, die gerne mehr wissen möchten, denn so bleibt das Imperium unübersichtlich und ist kaum zur Publizität verpflichtet. Man weiß, dass die beiden Aldi-Brüder ihr Vermögen jeweils in verschwiegene Stiftungen eingebracht haben, deren Hauptzweck nicht Karitatives ist, sondern die optimale Verwaltung und Sicherung der Vermögen. Man weiß, dass Karl Albrecht, heute 89, sich schon vor Jahren aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen und das Management bei Aldi-Süd angestellten Chefs überlassen hat. Sohn Karl junior hat sich gesundheitlich als nicht robust genug erwiesen für das Geschäft. Einigen Einfluss dagegen haben laut „Manager Magazin“ Beate Heister, Tochter des Patriarchen, und ihr Sohn Peter Max Heister. Theo Albrecht, 87, hat sich bis in die jüngste Vergangenheit aktiv um Aldi-Nord gekümmert. Die Söhne Theo junior und Berthold haben Sitze in Aufsichtsgremien, doch das eigentliche Geschäft leiten angestellte Manager.

Als öffentliche Personen sind die Albrechts so schattenhaft wie eh und je. Seit Jahren gelten sie als die reichsten Deutschen, und das US-Wirtschaftsmagazin „Forbes“ verzeichnet Jahr um Jahr getreulich die aktuelle Position der Albrechts auf seiner Milliardärs-Liste. 2009 stehen die Brüder weltweit besonders gut da und zählen zu den zehn reichsten Menschen der Welt. Karl belegt Platz sechs, Theo Platz neun. Die Verschwiegenheit der Brüder muss für die „Forbes“-Leute zuweilen frustrierend sein; aus der Redaktion hörte man, die Albrechts seien zurückgezogener als der Yeti.

Geschichte gemacht

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Wie transparent ein Großunternehmen wie das Aldi-Reich sein sollte, muss uns hier nicht interessieren. Als Privatmenschen haben Karl und Theo Albrecht natürlich jedes Recht, sich Zudringlichkeiten zu verbitten. Und angesichts dessen, wie Prominente und Pseudo-Prominente sich heutzutage in den Medien und im Internet tagtäglich entblößen, kann man solch konsequente Zurückhaltung durchaus sympathisch finden. Andererseits: Die beiden Brüder haben Geschichte gemacht, haben Nachkriegsdeutschland geprägt. Sie haben unser aller Kaufverhalten, unser tägliches Leben verändert. Sie sind gleichsam in Millionen Wohnungen durch Produkte präsent, die letztlich ihren Namen tragen: „Al …“, und sie haben gut davon gelebt. Da wünschte man sich schon, dass die beiden Herren als Vermächtnis endlich jemandem in die Feder und ins Aufnahmegerät diktierten – nein, nicht wo sie jetzt wie viel investiert haben und wo sie welche Villa besitzen. Aber wie das damals war in Schonnebeck, mit dem elterlichen Kolonialwarengeschäft, mit den ersten Filialen, wie sie das Aldi-Prinzip gefunden haben und wann sie gemerkt haben, dass es sie ganz hoch hinaus tragen würde – das würden wir schon gerne wissen. Und anders als irgendwelche Schlüsselloch-Neuheiten geht es uns auch etwas an. (na)