Essen. Vom Märchenfestival, über Poetry-Slam, Diskussionen mit P-E.N.-Autoren bis zum Krimi-Festival, Versen auf Plakatwänden und Übersetzerwettbewerb: Das Literaturprogramm der Ruhr.2010 bietet für jeden etwas.
Wäre die Kulturhauptstadt eine Sphinx und hätte ein Rätsel für naseweise Prinzen, es ginge so: „300 Projekte hat Ruhr.2010, aber alle wissen nur: Sie wollen die A 40 sperren. Wie kann das sein?” Tja. Wie kann das sein? Und man kann noch froh sein, wenn niemand „Kaffeeklatsch” murmelt oder „so'n Quatsch”. Es gibt noch andere Vor- bzw. Nichturteile. Dass es keine Projekte für Jugendliche gäbe oder dass alles furchtbar elitär wäre. Bei diesem Punkt gerät die A 40-Chose locker aus dem Blickfeld; was soll's.
300 Projekte hat Ruhr.2010, und zu den schönsten, umfassendsten, den Für-jeden-etwas-dabei-Projekten gehört das Literaturprogramm. Obwohl auch da lange das Märchen umging, die Kulturhauptstadt glaubte wohl, sie käme ohne aus. Glaubt sie nicht.
Apropos Märchen.
Das Literaturprogramm der Kulturhauptstadt reicht vom Märchenfestival bis zum philosophisch-humanistischen Kongress, von Diskussionen mit P.E.N.-Autoren bis zum Festival-Ableger „Mord am Bosporus”, vom Poetry Slam bis zu klassischen Versen auf Plakatwänden.
Soviel zu: nix für Junge, und: nur abgehobenes Zeug. Fangen wir mit Letzterem an.
Europameisterschaft der Literaten
„Mehr Licht! Die europäische Aufklärung weitergedacht” ist ein hoch ambitioniertes, in der Tat anspruchsvolles Projekt des Literaturbüros Ruhr. Autoren, Philosophen, Wissenschaftler werden zusammengebracht, um Analysen und Visionen zum Leben und Zusammenleben der Menschen in der Region und im globalen Kontext zu entwickeln. Dabei geht es sehr konkret um Freiheit, Toleranz, Religionenkritik und Vernunft in allen gesellschaftlichen Bereichen; auch um die Frage, wie Kant heute weiterzudenken ist: „Wo Bildung fehlt, Kultur, menschliche Zuwendung, wird man weniger von ,selbstverschuldeter Unmündigkeit' sprechen dürfen”, heißt es in der Projektbeschreibung. Ein eindrucksvoller Ansatz, der viel fordert und sehr viel bringen kann; der ehemalige Chef des Kulturwissenschaftlichen Instituts, Jörn Rüsen, ist dabei, an Autoren haben Ilja Trojanow und Juli Zeh schon zugesagt.
Der andere, populäre Pol des Programms ist vielgestaltig. Den Kleinsten wird erzählt; Krimifreunde spielen an „Tatorten” ganze Storys durch, und 52 Frauen aller Schichten haben ein Jahr lang je eine Woche Tagebuch geführt. Gemeinsam ist all diesen Projekten, dass sie Freude machen wollen – und nach der Funktion von Literatur im Alltag fragen. Revier-Autoren schreiben Texte mit Schriftstellern aus anderen europäischen Ländern und Israel, es gibt einen Übersetzerwettbewerb und ein literarisches Fußballspiel: Autoren bilden eine Mannschaft und spielen gegen Schriftsteller aus Österreich, England, Schweden, die Türkei und Ungarn – Sönke Wortmann ist dabei, Kapitän ist Albert Ostermaier. Nach dem Halbfinale gibt es eine Mitternachtslesung im Zentrum für Lichtkunst in Unna.
Spuren hinterlassen
Und dann gibt es noch den Verein „Bewahren durch Beleben”, der zu einem bewegenden Projekt der Kulturhauptstadt wurde – er verbindet besonderes Engagement mit einem Blick auf die Vergangenheit der Region.
In Bochum-Gerthe gibt es eine Siedlung, die zur Schachtanlage Lothringen III. gehörte und nach 1966 als Studentenheim diente, heute leben dort vor allem junge Familien. Erst vor zehn Jahren wurde durch einen ukrainischen Überle-benden bekannt, dass in den 40er Jahren hier ein Zwangsarbeiterlager war.
Die Bewohner beschlossen, die erschütternde Entdeckung umzusetzen in Aufklärung: Sie gründeten einen Verein, der die Geschichte des Ortes als „historische Theaterführung” weitergibt. Ein Stück, selbst geschrieben und inszeniert, erzählt Besuchern, was hier geschah. Asli Sevindim, die als künstlerische Direktorin von Ruhr.2010 für das Literaturprogramm zuständig ist, bekennt, dass dieses sehr emotionale Projekt sie persönlich stark bewegt. Der Verein „Bewahren durch Beleben” bekommt Geld von der Kulturhauptstadt – „eine kleine Summe”, sagt sie: weil er das Ziel ernst nimmt, den sozialen Zusammenhalt zu fördern und Spuren bei den Menschen zu hinterlassen, die weiterführen.