Essen. Vladimir Nabokovs Notizzettel aus dem Nachlass lassen ahnen, wie sein letzter Roman eventuell hätte sein sollen – mehr nicht. "Das Modell für Laura - Sterben macht Spaß" lässt den Leser alleine und bietet stattdessen in der Luxusausgagabe Faksimiles zum Selberpuzzlen.

Womit beginnen? Wie schreibt man eine Geschichte über eine Geschichte, die keinen Anfang hat, kein Ende, der die Mitte gar gänzlich fehlt? Vielleicht so: Über 30 Jahre lang lagen 138 beschriebene Karteikarten in einem Schweizer Banksafe; nach dem Willen ihres Autors sollten sie nach seinem Tod vernichtet werden. Oder eher so: Fällt sein Name, fällt den meisten ein Schmollmund ein und nicht auf, welch Wortkünstler sie da verkennen. Oder doch lieber so: „Dmitris Dilemma" zwischen Treue zum Vater und Loyalität zum Werk ist entschieden. Endlich. Leider.

Kurz: In dieser Woche erscheint, gegen den erklärten Willen des Perfektionisten Vladimir Nabokov, „Das Modell für Laura" – als Fragment eines Fragments, Ahnung eines großen Werkes und Nachklang eines anderen: der „Lolita", die ihn bis ins Grab verfolgen sollte.

Was genau wollte uns der Autor sagen?

Titel & Untertitel

Sterben macht Spaß

Als Vladimir Nabokov 1977 starb, hinterließ er ein Romanfragment auf 138 Karteikarten und den Wunsch an Frau Véra und Sohn Dmitri, es zu vernichten. In dieser Woche erscheint „Das Modell für Laura – Sterben macht Spaß" bei Rowohlt (320 Seiten, 19,90 Euro): Links die englischen Karteikarten, rechts die deutsche Übersetzung von Dieter E. Zimmer und Ludger Tolksdorf

„Lolita ist berühmt, nicht ich", das wusste Vladimir Nabokov ja selbst; seine öffentliche Wahrnehmung als Vater der Nymphe haben zwei Verfilmungen verfestigt (1962 von Stanley Kubrick, 1997 von Adrian Lyne). Der Roman um den perversen Poeten Humbert Humbert und seine Verbrechen an der zwölfjährigen Dolores erschien 1955 tatsächlich zunächst in einem Pariser Verlag für erotische Literatur. Dem Lob Graham Greene sei's gedankt, fand das rätsel- wie kunstvolle Werk den verdienten Weg in den Literaturkanon.

Aber: Was genau wollte uns der Autor sagen? Ob er sich gar selbst im Schatten allzu junger Mädchenblüte befand? Antwort auf diese bange Frage hatte sich die literarische Welt, angeheizt durch Andeutungen von Nabokovs Sohn Dmitri, jahrzehntelang vom Nachlass des Romanciers erhofft. Vergeblich, wie wir nun wissen. Denn Nabokov hinterließ nur seine berühmte linierte Zettelwirtschaft, auf der er stets in nicht-linearer Weise den im Kopf längst vollendeten Roman abarbeitete. „66 bis 83 Prozent" des Buches fehlen, schätzt Nabokov-Kenner Dieter E. Zimmer, „insbesondere der gesamte Mittelteil".

"66 bis 83 Prozent fehlen, insbesondere der Mittelteil"

Kein Plot, nirgends. Und so bleibt, die handelnden Personen vorzustellen: Philip Wild, Neuropsychologe, denkt nach über einen möglichen Selbstmord allein durch die Kraft seiner Gedanken; er beginnt damit, seine Zehen absterben zu lassen. Seine untreue Ehefrau Flora wird für einen ihrer Liebhaber zum Modell einer Romanfigur. Darin geht es um einen Literaten, „der seine Geliebte vernichtet, indem er sie porträtiert". Auf der letzten Karte beginnt Flora die Lektüre, auf einem Bahnsteig des Schweizer Städtchens Sex.

In jener Flora dürfen wir eine Schwester der Lolita vermuten: „Von Hand umgedreht, offenbarte ihr zerbrechlicher, gefügiger Körperbau neue Wunder – die beweglichen Schulterblätter eines Kindes in der Badewanne, die Krümmung der Ballerinenwirbelsäule, schmale Pobacken." Humbert hat ein „m" verloren, aber nichts von seinem Schrecken, er geistert als Hubert H. Hubert durch Floras Kinderstube und umhüllt sie „mit einer klebrigen unsichtbaren Substanz". Eine kleine Erkenntnis im großen Durchein-ander: Lolita scheint hier nun mehr Opfer als neckische Tatverdächtige zu sein.

Faksimiles zum Selberpuzzlen

Erkenntnis zwei: Der Rowohlt-Verlag, der bisher mit der anerkannten Nabokov-Werkausgabe eher aufs Solide denn Spielerische setzte, lässt nun das erklärende Fundament fehlen und die Leser unschön allein. Stattdessen kartet er mit einer „Luxusedition" nach. Für 50 Euro gibt es Faksimiles zum Selberpuzzlen.

Die englische Laura erscheint erst am 17. November, in dieser Woche aber bereits als Vorabdruck – im Playboy. Das Nymphchen, Nabokovs Notizzetteln entkommen, zerrt ihn ein letztes Mal in niedere, sündenpfuhlige Gefilde.