Münster. Sie sind "Notärzte" für Dokumente: Restauratoren kämpfen im Archivamt des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe mit Kälte und Leidenschaft um den Aktenschatz des eingestürzten Kölner Stadtarchivs. Bis ins Jahr 2050 werden sie wohl zu tun haben.

Jeder weiß, was passiert, wenn sich altes Papier mit Dreck und Wasser mischt. Heraus kommt ein Klumpen, meist schmutzig-grau, reif für die Tonne. Diese schäbige Verbindung gingen am 3. März 2009 Hunderttausende Seiten aus dem Kölner Stadtarchiv ein. Dokumente, die so einzigartig sind, dass ihre Entsorgung in der Tonne einem kriminellen Akt gleichkäme. Es hilft also nichts: Papier, Dreck und Wasser müssen wieder getrennt werden.

Ein Notarzt für Dokumente

Maßarbeit: Archivar Reinhold Sand mit einem beschädigten mittelalterlichem Buch. Foto: Matthias Graben
Maßarbeit: Archivar Reinhold Sand mit einem beschädigten mittelalterlichem Buch. Foto: Matthias Graben © WAZ FotoPool

Reinhold Sand ist ein „Notarzt” für Dokumente. Er hat immer einen Erste-Hilfe-Koffer dabei, mit Stretch-Folie (das ist die, in die man auf Flughäfen seine Koffer hüllen kann), Stiefeln und Taschenlampe. Sand hat schon viel literarisches Elend gesehen: Bücher, die 2002 das Elbe-Hochwasser durch Sachsen spülte; verkohlte und mit Löschwasser aufgequollene Schmöker aus der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar. Aber das alles ist nichts im Vergleich zu dem, was Sand im März in Köln erleben musste. Er seufzt tief, wenn er sich an die klammen Pakete erinnert, die Feuerwehrleute ihm damals vor die Füße legten: „Wasser ist der natürliche Feind von Papier: Wenn nasses Papier trocknet, wird es schnell weiß, dann kommt der Schimmel.” In Köln goss es wie aus Eimern.

Dennoch: „Erstaunlich viele Dokumente haben das Unglück relativ unbeschadet überstanden, müssen nur gereinigt oder neu verpackt werden”, sagt Markus Stumpf, Leiter des Archivamtes beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Der Rest gibt ganzen Restauratoren-Legionen Arbeit. „Experten rechnen mit 6300 Personen-Arbeitsjahren”, erklärt Stumpf. Übersetzt: Um das Jahr 2050 herum dürfte Kölns Stadtarchiv wieder einigermaßen so ausgestattet sein wie am 2. März 2009. Manches wird nie wieder auftauchen. „Etwa zehn Prozent der Bestände liegen als Schlammpakete immer noch unten”, weiß Stumpf. Einen weiteren Teil der Archivalien nennen die Restauratoren „Köln-Flocken”

Kälte macht Papier geduldig

Tiefgefroren: Eine komplett durchnässte Akte von fünf Zentimetern Dicke. Foto: Matthias Graben
Tiefgefroren: Eine komplett durchnässte Akte von fünf Zentimetern Dicke. Foto: Matthias Graben © WAZ FotoPool

Restaurator Sand kann das Ausmaß dieses Unglücks immer noch nicht fassen: „In Köln hat es nie einen großen Stadtbrand gegeben wie in London. Nie haben Kriegshorden die Archive geplündert, nie wurde Wertvolles in großen Mengen weggeworfen. Das war eine geschlossene Überlieferung aus fast 1000 Jahren. Da mutet es absurd an, dass diese einzigartige Sammlung 2009 in einem U-Bahn-Schacht verschwindet."

Weil Kälte Papier geduldig macht, wurden die nassen Dokumente gleich nach dem Unglück tiefgefroren. 650 Regalmeter eisige Archivalien wird das LWL-Archivamt in Münster gefriertrocknen. Zunächst müssen Papier und Wasser ihre innige Verbindung beenden. Das geschieht in einem schlichten, weiß gekachelten Kellerraum, der einer Waschküche ähnelt, in vier Unterdruck-Stahlschränken, die mit Vakuumpumpen und Eiskondensatoren verbunden sind. Die Gefriertrocknung wassergeschädigten Papiers hat den Vorteil, dass die Dokumente nicht mehr mit flüssigem Wasser Kontakt haben. „Das Eis wird gleich vom festen in einen gasförmigen Zustand gebracht”, sagt Sand.

Ein zäher Prozess

Leicht gesagt, aber ein zäher chemischer Prozess. Ein Zentimeter Eis verdampft in 24 Stunden. Das heißt, dass eine komplett durchnässte Akte von fünf Zentimetern Dicke fast eine Woche im Stahlschrank trocknen muss. Ist die Gefriertrocknung abgeschlossen, beginnt die eigentliche Arbeit der Restauratoren. Das Schicksal hat erdrutschartig Kölner Dokumente zusammenwachsen lassen, die nicht zusammen gehören: Da mischen sich Rats-Protokolle mit Beschlüssen des Ausländerbeirates, Bauakten von 1959 gesellen sich zu Rechnungsbüchern von 1678. Reinhold Sand nimmt das uralte Rechnungsbuch und schätzt: „70 Arbeitsstunden für die Restaurierung.” Warum aber sollte der Experte so viel Arbeit in die schnöde Bauakte aus den 1950ern stecken? Amtsleiter Stumpf weiß es: „Uns erscheint das im Moment banal. Aber in 500 Jahren werden sich Archäologen und Historiker darüber freuen.”