Mülheim. . Der Ruhr Reggae Summer in Mülheim feiert seinen zehnten Sommer. Ein Festival im Zeichen von Love und Peace. Doch die Szene steckt voller Widersprüche.
Das Paradies ist bekanntlich längst gepflastert und dient den in Würde und Wohlstand gealterten Fans von Joni Mitchell als Parkplatz. Doch einmal im Jahr geschieht ein Wunder, und die legitimen Erben der Woodstock-Generation treffen sich auf einem unscheinbaren Parkplatz in Mülheim-Styrum, um ihn wieder in einen spirituellen Ort zu verwandeln. Der „Ruhr Reggae Summer“ feiert nun von Freitag bis Sonntag seinen zehnten Sommer: Ein utopisches Projekt wird zur Institution – kaum eine Szene meint es ernster mit „Love, Peace & Happiness“. Aber die Reggae-Kultur ist auch nicht frei von Widersprüchen.
Um zu verstehen, warum alle diese rot-gelb-grünen T-Shirts tragen, müssen wir zurückschauen ins Jahr 1930: Ein schwarzer Kaiser wird gekrönt in Äthiopien, im einzigen unabhängigen Land Afrikas. Sogar der weiße Botschafter Großbritanniens kniet vor dem Thron Haile Selassies. Und selbst weit entfernt, auf einer vom Kolonialismus geknechteten Insel in der Karibik, sieht man dieses Bild. Politische Prediger aus Jamaika verkünden schon länger, es sei für alle Schwarzen an der Zeit „heimzukehren“, und nun haben sie eine Projektionsfläche gefunden für ihre Erlösungsfantasien. Sie verkaufen sogar Rückfahrtickets nach Afrika mit dem Konterfei des Kaisers – freilich ohne ein Boot zu besitzen Es hilft sicher, dass Haile Selassie selbst seine Abstammung auf König Salomon zurückführt. Er führt die Beititel „Löwe von Judäa“ und „Ras Tafari“ – frei übersetzt: „der verehrte Fürst“.
Der Messias dementiert
Nun ist eine Religionsgemeinschaft eher selten in der Lage, ihren Messias zu befragen, ob er wirklich die Inkarnation Gottes auf Erden sei. In jüngerer Zeit war die Kirche (Diego) Maradonas solch ein Fall, aber die Rastas meinten ihre Frage ernster ... Und also sprach Haile Selassie: Nein, bin ich nicht. Die Rastas aber ignorierten seine Antwort und seine Rolle in Kriegen und Hungersnot so freundlich wie entschieden. Und darum wird auf dem Ruhr Reggae Summer fröhlich die äthiopische Flagge geschwenkt.
Aber sind Rot, Gelb, Grün nicht auch die panafrikanischen Farben? Alles interpretierbar – das macht die Attraktivität von Rastafari aus, gerade für die weiße Bildungsbürgerjugend: Niemand fordert hier ein formales Glaubensbekenntnis. Alles bleibt so frei und ungefähr wie ein in die Luft geblasener Rauchring, auch wenn tatsächlich die Bibel die Grundwerte vorgibt: Toleranz, Frieden, Liebe. Ach ja, und Musik und Cannabis – in der Tradition der Hippies, deren esoterische Exzesse selbst Selassie blass wirken lassen. Auch der Ruhr Reggae Summer wirkt darum streckenweise wie ein großer Gottesdienst: Zum Schluss packt Moderator Andrew Murphy die Gitarre aus und die Gemeinde ihre Feuerzeuge, alle fassen sich an den Händen und singen den Bob-Marley-Klassiker „Redemption Song“ – Kommunion ohne Kirche.
Aber wie passt das zum Vorwurf, die Szene sei schwulenfeindlich? Der Reggae und viele seiner Musiker stammen aus den Slums Jamaikas, einer gewalttätigen, homophoben und von Emanzipation weithin unberührten Welt. Bob Marley hat permanent seine Frau betrogen – sein unehelicher Sohn Damian ist am Samstag der Star in Mülheim. Und Anthony B., am Freitag auf der Bühne, hat in den Neunzigern gegen Schwule gewettert – seit 2003 distanziert er sich davon. Er habe es nicht besser gelernt.
Auch Gangsta-Rap endet als Reggae
Es ist es zudem verwirrend, was auf Jamaika alles als Reggae verkauft wird: Pop und Disco, Country, Schmuseschlager und eben auch Gangster-Hip-Hop können hier als Reggae enden. Fast jedes Stück lässt sich reggaefizieren, indem man den Rhythmus verschiebt, zwischen die Zählzeiten des Takts. Die Globalisierung und ihr Konformitätsdruck aber haben dafür gesorgt, dass Homophobie weitgehend aus den Liedtexten verschwunden ist – auch wenn die Privatmeinung mancher Reggae-Größen weiter der von Kardinal Meisner gleichen mag.
Reggae ist heute ohnehin so deutsch wie karibisch. Gentleman und Patrice, beide aus Köln, beide Bildungsbürger, singen von „Jah“, von Gott, aber man wird in ihren Texten vergeblich nach äthiopischen Diktatoren fahnden. Die europäischen Fans verbinden mit Reggae eine eher aufgeklärte Spiritualität: die Kirche Bob Marleys.
Ruhr Reggae Summer