Essen. . „Le Grand Macabre“ von György Ligeti ist eine pralle Opern-Groteske. Essen zeigt das Stück als braves Spiel mit virtuellen Realitäten

Zwölf Autohupen läuten diese Auferstehung ein: Nekrotzar, der „Große Makabre“, steigt aus dem Orchestergrab, zieht durch das pralle Brueghelland und verkündet den Weltuntergang. Doch die Einwohner haben anderes im Kopf: Trinken und Sex zum Beispiel. Die Essener Aalto-Oper zeigt György Ligetis tiefschwarze Opern-Groteske „Le Grand Macabre“ jetzt als erstaunlich braves Spiel mit virtuellen Realitäten. Das Publikum feiert bei der Premiere eine großartige Ensembleleistung mit Beifall im Stehen. Zahlreiche Besucher sind schon in der Pause gegangen, andere loben, dass das Aalto sein Repertoire um zeitgenössische Werke erweitert.

Sauflieder und Koloraturen

Das Stück verlangt dem Ensemble enorm viel ab. Die Solisten müssen nicht nur singen, und zwar Sauflieder ebenso wie extreme Koloratur-arien, sie müssen auch Kabarett und Slapstick auf die Bühne bringen. Sogar der Chor und die Musiker sind szenisch gefordert, sie bevölkern nach und nach die Ränge und das Parkett. György Ligeti (1923–2006) hat mit „Le Grand Macabre“ 1978 eine „Anti-Anti-Oper“ geschrieben, einen wilden musikalischen Bilderbogen, der von Apokalypse-Darstellungen Pieter Brueghels d.Ä. und Hieronymus Boschs inspiriert ist.

Die französische Regisseurin Mariame Clément und Bühnenbildnerin Julia Hansen übersetzen Ligetis ironisches Sittengemälde in eine zeitgenössische Cyber-Ästhetik. Piet vom Fass ist ein Nerd, der an einem zugemüllten Schreibtisch ausschließlich für seinen Laptop existiert. Im Bedienen von Computerspielen erhält er Macht, wird zum Schöpfer und Unschöpfer zugleich, schafft und zerstört Universen und Figuren, auch wenn diese manchmal ziemlich durcheinander laufen. So ist es kein Zufall, dass Piet und Nekrotzar einander ähnlich sehen. Der Große Makabre ist das Alter Ego der einsamen Wurst am Rechner, er kann stellvertretend für diesen in Rollen schlüpfen: dämonischer Dirigent, teuflischer Papst, Sensemann und Comic-Held Hulk.

Diese mediale Interpretation macht Ligetis „Anti-Anti-Oper“ allerdings nicht bunter, sie dreht ihr im Gegenteil den Saft ab. Denn Mariame Clément reflektiert nicht auf die Totentanz-Allegorien der Kunst und der Musik, sondern auf die Game-Over-Philosophie der Netzgemeinschaft, deren Überleben von funktionierenden Pizzabringdiensten abhängt. Nekrotzar, Piet und Astradamos geben sich vor dem Jüngsten Gericht entsprechend die Kante und albern herum: „Ich Zar, du Zar, er Zar, P(b)izzar“.

Fantastischer Totentanz

Während die ersten Akte noch witzig und temporeich sind, zieht sich das Finale erheblich in die Länge. Der Rechner explodiert, die Protagonisten finden sich im Brueghel-Gemälde „Die niederländischen Sprichwörter“ wieder und stellen fest, dass sie im leeren Raum, also im nackten Leben, angekommen sind. Diese Lösung fällt seltsam ab gegenüber den vorherigen Regie-Ideen.

Der russische Gastdirigent Dima Slobodeniouk ist ein Spezialist für zeitgenössische Klänge; er verwandelt Ligetis Partitur in einen fantastischen Totentanz mit vielen spannenden Klangeffekten.

Das Ensemble singt und agiert einfach zum Verlieben, allen voran Bariton Heiko Trinsinger als leicht naiver Sensenmann Nekrotzar und Tenor Rainer Maria Röhr als wunderlicher Piet vom Fass. Countertenor Jake Arditti (Fürst Go-Go) wetteifert mit Susanne Elmark (Geheimpolizistin Gepopo) um die höchsten Töne. Tijl Faveyts ist als Astradamos ein Pantoffelheld auf Urlaub und Ursula Hesse von den Steinen als Mescalina eine sexy Giftspritze.

Alleine Karin Strobos (Amanda) und Elizabeth Cragg (Amando) haben den falschen Film erwischt. Sie spielen die Bettszene des „Rosenkavaliers“ in einer Endlosschleife nach, und der ganze Weltuntergang kann ihnen gestohlen bleiben.