Essen. Seit Oktober demonstriert “Pegida“ in Dresden gegen eine von ihr wahrgenommene Islamisierung des Abendlandes. Was hat es mit diesem Land auf sich?
Wie so viele nützliche Erfindungen ist auch das Abendland eine deutsche. Im Herbst 1522 saß Martin Luther auf der Wartburg und verfasste seine berühmte Übersetzung der Bibel ins Deutsche. Bei Kapitel 2, Vers 1 des Matthäus-Evangeliums gönnte er sich eine kleine, aber folgenreiche Extravaganz. „Magi ab oriente“ stand in der lateinischen Vorlage, also „die Weisen aus dem Sonnenaufgang“. Osten sagen wir heute dazu, Osten oder „Morgen“ sagte man zu Luthers Zeiten. Doch aus Gründen, die wir nicht kennen, schuf er ein neues Wort und schrieb „die Weisen aus dem Morgenland“. Das bürgerte sich ein, und schon 1529 fand sich, in den Schriften eines anderen Reformators, auch das Gegenteil davon: Abendland.
Damit war eine Vokabel in der Welt, die heute wieder in aller Munde ist: Pegida demonstriert jeden Montag in Dresden gegen die Islamisierung des Abendlandes. Was steckt hinter dem Begriff?
Kairo als tiefstes Abendland
Abendland und Morgenland – das sagte zu Luthers Zeit noch gar nichts über Identitäten. Es waren Wörter für Himmelsrichtungen. „Abendlender“ waren zunächst die westlichen Nachbarn der Deutschen. Auch das Morgenland in der Weihnachtsgeschichte war ja nur eine Gegend östlich des Heiligen Landes – es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass aus dieser Perspektive schon Kairo tiefstes Abendland wäre. Verwirrend? Vielleicht, aber das ist ja erst der Anfang.
Kaum war das Abendland erfunden, da war es auch schon bedroht. Im selben Jahr 1529 standen die Osmanen das erste Mal vor Wien. Wer in der Bibel las, der erkannte in den heidnischen Heeren jene Reiter der Apokalypse, die das nahe Weltenende ankündigten. Der Sultan ging als Verkörperung des Antichrist ins Bewusstsein der Christen ein, zumindest jener, die nicht schon den Papst dafür hielten. Und durch die ständigen Türkenkriege, die nun folgten, sollte sich diese endzeitliche Panik vor den Osmanen 150 Jahre lang halten.
Die "Türckenfurcht" und die Angst von Pegida
Von der vielzitierten „Angst“ der Pegida-Bewegung, die seit Oktober in Dresden gegen eine "Islamisierung des Abendlandes" demonstriert, unterscheidet sie sich aber: Die Zeitgenossen Luthers fürchteten nicht den Bau von Moscheen, sondern den Weltuntergang, was dann doch nicht ganz dasselbe ist. Und auch das sei erwähnt: Die Panik schlug sofort ins Gegenteil um, als die Osmanen 1683 entscheidend geschlagen waren. Der „Türcke“, eben noch im Kupferstich als grausame Kampfmaschine gezeichnet, mutierte nun zum Tölpel. Und im 18. Jahrhundert waren trottelige Türkenfiguren für die Lacher in der Oper zuständig, etwa der leicht zu überlistende Osmin in Mozarts „Entführung aus dem Serail“.
Dass das Abendland in Deutschland (und auch nur hier) zu einem Kampfbegriff christlich-konservativer Kreise werden konnte, lag am romantischen 19. Jahrhundert. Anderswo wurden Revolutionen und Innovationen gemacht. Doch das Land der Dichter und Denker wandte sich angewidert ab und gab sich ganz der Sehnsucht nach der guten alten Zeit hin – dem Mittelalter, als Europa noch einig und fromm war.
Die Schwärmerei hinterlässt unübersehbare Spuren
„Das ganze Abendland bis zu dem Eise des Nordpols hinauf ist in dieser geistigen Bande der Kirche beieinander, die ganze Christenheit weiß sich als eine Gemeinschaft“, schwärmte der Historiker Johann Gustav Droysen 1847 über das hohe Mittelalter. Wahrscheinlich war das ein Zerrbild. Doch es entfaltete seine Wirkung. Ohne den Glauben, am Wiederaufbau eines zerstörten Idylls mitzuwirken, wäre so etwas kostspieliges wie die Vollendung des Kölner Domes sicher nicht denkbar gewesen. Heute ist er hierzulande die sichtbarste Spur der ganzen Abendland-Schwärmerei – wenn das Licht nicht gerade aus ist.
Doch wo war eigentlich dieses Abendland? Die Grenzen blieben immer Geschmackssache. Üblicherweise wurden auch die Länder Ost- und Südosteuropas dem anderen, dem Morgenland zugerechnet, weil sie zwar christlich waren, aber "nur" orthodox. Und der stilprägende Historiker Leopold von Ranke wollte noch nicht einmal Polen und Ungarn zum Abendland zählen, dabei waren das Bollwerke gegen die Osmanen gewesen und ausgesprochen katholisch.
Im 20. Jahrhundert kommt die Angst zurück
„Das ist ja nicht der Untergang des Abendlandes.“ Man sagt das so, wenn mal wieder eine neue Schramme am Auto ist. Die Idee, dass das Abendland untergehen könnte (während die Welt sich weiterdreht), geht dabei auf das Jahr 1918 zurück, als das berühmte, aber umstrittene Buch „Der Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler erschien. Spengler prophezeite, dass die Länder des Westens ihre Führungsrolle verlieren und ihre Bewohner künftig ein Leben als bessere Arbeitssklaven fristen werden. Mit Spengler kam die Angst ums Abendland zurück in die deutsche Stube.
Hat Spengler Pegida inspiriert? Es gibt Unterschiede. Für Spengler gehörte Nordamerika mit zum Abendland, für viele bei Pegida ist das undenkbar. Und Spengler sah das Abendland nicht durch Muslime bedroht – sondern durch eben jenes Land, das Pegida so gerne in Schutz nimmt: Russland.
Ein Nazi-Wort? Eher nicht
An diese Vorstellung knüpften auch die Nationalsozialisten an, aber sie taten es spät. Allem Christlichen abgeneigt, war ihnen auch das Abendland zunächst herzlich egal. Sie pflegten ihre eigenen Geschichtsmythen, ordneten die Welt nach „Rassen“ statt nach Himmelsrichtung. Der Ton änderte sich aber nach Stalingrad: Im Rückzug rief Hitler den Kampf um die „Rettung des Abendlandes“ aus – um auch jene für den Endkampf zu gewinnen, die dem NS-System skeptisch gegenüberstanden. Spätestens jetzt war damit ein Zustand erreicht, den der Zeithistoriker Wolfgang Benz kürzlich so ausdrückte: „Abendland ist ein ganz weiter Begriff, da lässt sich beliebig viel eintüten.“
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Vom Abendland zu reden, kam aber noch einmal in Mode. Konrad Adenauer erklärte 1949 bei seinem Amtsantritt als Bundeskanzler, dass er den „Geist christlich-abendländischer Kultur“ zum Fundament seiner Arbeit machen wollte. Das war Anti-Nazi, passte zu Adenauers christlicher Partei, und es legitimierte die West-Anbindung der Bundesrepublik.
Wo das Abendland für Aachener endet
Ganz in diesem Sinne wurde 1950 auch der Aachener Karlspreis ins Leben gerufen. Er sollte Persönlichkeiten ehren, die den „Gedanken der abendländischen Einigung“ fördern – und erinnerte dabei an das mittelalterliche Reich Karls des Großen. Das war heikel, denn dieses Reich umfasste zwar fast das ganze heutige Frankreich, die Schweiz, die Benelux-Länder, Österreich, Teile Italiens und Deutschlands. Doch hier reichte es nur mit Mühe bis an den Unterlauf der Elbe. Adenauer, dem Rheinländer, wird das genügt haben, als er 1954 den Preis bekam. Aber aus heutiger Sicht ist es bemerkenswert, dass das spätere Dresden nicht dazugehörte. Ausgerechnet.