Dortmund/Essen. . Zwei umjubelte Konzerte des London Philharmonic Orchestra in Dortmund und Essen. Yannick Nézet-Séguin dirigierte in der Spitzenklasse, etwa klanglich extrem raffiniert ausgetüftelte „Unvollendete“ oder die schwindelerregenden Dynamik-Schübe von Richard Strauss’ „Don Juan“. Die Musiker verneigten sich.
In einer Mischung aus Kompliment und Klage hat Vladimir Jurowski, Russe und Chef des London Philharmonic Orchestra, unlängst gesagt, mit einem Londoner Spitzenorchester 95 Prozent Spitzenqualität zu erreichen, sei leicht, das könne es von ganz allein. Harte Arbeit seien die übrigen fünf. Da erlauben wir uns von hier aus, einen Kollegen Jurowskis ab sofort den Ehrentitel „Mister 5 Prozent“ zu verleihen: Yannick Nézet-Séguin.
Man kann anders dirigieren als es Nézet-Séguin tut, doch intensiver, dramatischer, klangschöner und sinnlicher wird es kaum möglich sein. Zwei umjubelte Abende in Dortmunds Konzerthaus und Essens Philharmonie, und selbst Londons Philharmoniker applaudierten dem weltweit gefeierten Kanadier Nézet-Séguin – eindeutig nicht nur wegen britischer Manieren. Erschöpft am Ende, glücklich gleichfalls: Orchester wie Publikum. Zwar hätte auch eine klanglich extrem raffiniert ausgetüftelte „Unvollendete“ schon ein 1a-Finale sein können -- mit selbstbewusst pointiert artikulierenden Posaunen und einer Streicher-Eröffnung, die das Kunststück musikantischer Präzision ohne Weichzeichner bot. Aber wie der junge Maestro am Pult hexen kann, wie souverän er die vertrackten Einsätze, die schwindelerregenden Dynamik-Schübe und rhythmischen Brüche von Richard Strauss’ „Don Juan“ inszeniert – und wie brillant dieses „LPO“ all dem klingende Taten folgen lässt, das musste zum Schluss dann doch gezeigt werden.
Dabei bot die Eröffnung schon Großes. Nie ließ die Spannung ab in Brahms’ zweitem Klavierkonzert, was bei fast einstündiger Dauer schon ein Wert an sich ist. Und erst der Anwalt jenes Stücks, mit dem die Deutschen sich lange schwer taten: Lars Vogt demonstriert, dass man kein Charismatiker sein muss, um zum Wesentlichen vorzudringen. Und das hat bei Brahms etliche Gesichter. Vogt zeigt sie alle, ist selbstvergessener Berserker, zarter Naturpoet, eben noch im pianistischen Pointillismus zu Hause, dann von kunstvoll ironischer Ekstase. Doch wie Brahms selbst: immer kontrolliert, bei Bewusstsein.
Ein enormer Abend. Dass unsere Region davon zuletzt nicht wenige verzeichnet, ist keine Inflation. Es ist ein Geschenk.