Krefeld. Prof. Dr. Lars Meyer leitet die Demokratiewerkstatt Krefeld. Mit Blick auf die Bundestagswahl 2025 hat er eine große Sorge.
Demokratie findet nicht am Schreibtisch statt, sondern bei den Menschen. Deshalb hat Prof. Dr. Lars Meyer als Treffpunkt fürs Gespräch den Tagestreff „Die Brücke“ der Emmausgemeinschaft Krefeld vorgeschlagen. Hier können Wohnungs- und Obdachlose sich aufwärmen, etwas essen oder sich waschen – aber auch regelmäßig mit Politikerinnen und Politikern über ihre Situation und Bedürfnisse sprechen. „Das ist ein wichtiger Ort“, betont er. Ebenso wie „Die Shedhalle“ der Samtweberei, in die er nun führt. In der riesigen Halle, die im früheren Leben mal eine florierende Textilfabrik war, stehen ein Regal mit gebrauchter Kleidung, ein Schrank mit zahlreichen Büchern und ein kleines Fußballtor. Weshalb alles so gepflegt aussieht? Nun, „die Menschen achten hier aufeinander“, antwortet er. Der Raum ist ihnen wichtig, auch, weil er eine „demokratische Plattform“ ist, wie er es formuliert. „Diesen Gedanken müssen wir im Hinterkopf behalten“, betont er, während er nun doch sein Büro aufschließt. Im Warmen lässt es sich einfach besser reden – über die Demokratiewerkstatt Krefeld, aber auch über die Bundestagswahl 2025 und seine ganz große Sorge.
Wie geht‘s Ihnen – so kurz vor der Bundestagswahl?
Es schrillen alle Alarmglocken! Das hat etwas mit den Bundestagswahlen zu tun, aber auch damit, was wir in den letzten zwei Jahren in der Bundesrepublik feststellen mussten: Die Grundfeste unseres Zusammenlebens haben angefangen zu wackeln. Auf die Parameter einer liberalen Demokratie, auf die wir uns geeinigt haben, wird nicht mehr viel gegeben. Zivilgesellschaftliche Strukturen sind massiv unter Druck geraten. Populistische Sprache und Ansichten haben überall Einzug gehalten. Jetzt muss die Frage gestellt werden: Wie gehen wir damit um?
Denken Sie, durch mehr politische Bildungsarbeit würde eine Partei wie die AfD weniger Zuspruch erhalten?
Ich glaube schon. In den letzten 20, 30 Jahren hätten wir die Demokratie nicht einfach allein laufen lassen dürfen – das war fast schon fahrlässig! Aber jetzt geht doch alles noch schneller, als ich gedacht habe... Also ja, wenn wir die politische Bildungsarbeit vielfältiger aufgestellt und früher gestärkt hätten, müssten wir jetzt über manche Probleme nicht sprechen.
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Wie kann politische Bildungsarbeit denn aussehen?
In der Demokratiewerkstatt Krefeld versuchen wir mit Themen, die alle Beteiligten betreffen, einen Raum zu öffnen, um Visionen, Diskussionen und Handlungsmöglichkeiten sichtbar werden zu lassen. Ein solcher Raum ist nicht die Wahlkabine – also nicht nur –, sondern eine demokratische Plattform, auf der ein Austausch möglich ist und Demokratie mit Leben gefüllt wird.
Wie „Die Brücke“ oder „Die Shedhalle“?
Genau. Die Menschen können hier ins Gespräch kommen. Und wenn ich von Menschen spreche, meine ich alle Menschen: Nachbar*innen, Obdachlose, Politiker*innen... Bei unserem Jahresauftakt im Januar waren 120 Personen, darunter Vertreter*innen aller Parteien, die sich unter der Fragestellung konstruktiv in den Dialog begeben. Es ging um die anstehende Bundestagswahl, die aktuellen Demonstrationen und um Fragen wie: Was heißt Würde? Wo gibt es noch Fairness und Solidarität? Wie wird der Zusammenhalt eingeschätzt? Aber eben ganz konkret hier vor Ort? Beim Sozialforum am 21. Juni soll es dann um die Kommunalwahlen gehen sowie um die Frage: Was haben wir in den vergangenen sieben Jahren mit der Demokratiewerkstatt Krefeld erreicht und was sind die nächsten Schritte?
Und? Was haben Sie bereits erreicht?
Beispielsweise haben 2021 einige Frauen von der Straße formuliert, dass sie keinen Schutzraum haben. Daraus ist das Flinta*-Café entstanden (Anm. d. Red.: Flinta* steht für Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen), das immer mittwochs in der Brücke stattfindet. Ein halbes Jahr später sind die Frauen selbst zu Gastgeberinnen geworden, als sie die ganze Nachbarschaft zu einem Sommerfest eingeladen haben. Daraus wiederum ist ein politischer Kreis aus verschiedenen Akteur*innen entstanden, die zu einer Veranstaltung eingeladen haben, um über Gender-Gerechtigkeit und Sexismus zu sprechen. Auf der „Bühne“ saßen dann auch die Frauen von der Straße. Als Demokratiewerkstatt haben wir keine eigene Agenda, stattdessen schaffen wir einen Raum, in dem Visionen Platz bekommen. Und von dort aus geht es dann immer weiter.
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Aber wie erreichen Sie überhaupt die Menschen?
Die Veranstaltungen in der Shedhalle sind bedürfnisorientiert, damit wir alle Menschen erreichen, von jung bis alt. Es gibt einen Trödelmarkt, Sportangebote oder auch ein Bühnenprogramm. Damit hat die Veranstaltung einen Mehrwert auf der Beziehungsebene. In diesem gemeinsamen Erfahrungsraum können dann alle ihr eigenes Thema einbringen.
Wie lassen sich Menschen überzeugen, die nicht an die Demokratie „glauben“?
Das Legitimationsproblem wird durch die Demokratiewerkstätten aufgelöst. Denn was auf politischer Ebene auftaucht, wird erlebbar gemacht, indem die Personen miteinander sprechen. Der Obdachlose redet mit dem EU-Politiker über seine Bedürfnisse – er will sich waschen können und Zugang zu Trinkwasser haben –, der wiederum genau das mit ins Parlament nimmt und im Kopf hat, wenn es um die EU-Trinkwasserrichtlinien geht. Die Bedeutung des Einzelnen bekommt also einen Platz. Wenn wir eine Kommune entwickeln wollen, müssen wir den Bedürfnissen der Menschen nach Versorgung, Fürsorge/Schutz und Sozialer Teilhabe gerecht werden.
Demokratiewerkstätten in NRW
Die Landeszentrale für politische Bildung NRW unterstützt die Demokratiewerkstätten, die politische Bildungsarbeit in Quartieren und gesellschaftlichen Räumen mit besonderen Herausforderungen betreiben.
Die Idee dahinter ist es, demokratische Denk- und Handlungsweisen auf lokaler Ebene erfahrbar zu machen und dadurch zu fördern. Aktuell gibt es bereits mehr als zehn Demokratiewerkstätten.
Prof. Dr. Lars Meyer leitet die Demokratiewerkstatt Krefeld, die vor rund zehn Jahren gegründet wurde. Außerdem lehrt er als Professor für Soziale Arbeit an der IU Internationale Hochschule in Duisburg.
Was bedeutet es für Ihre Arbeit, falls die AfD bei der Bundestagswahl tatsächlich über 20 Prozent der Stimmen erhält?
Wenn wir nicht die Unterstützung von den restlichen 80 Prozent erhalten, ist das ganze System im Eimer. Es darf keine Zusammenarbeit mit der AfD geben! Die Legitimation des demokratischen Miteinanders würde verloren gehen, weil die AfD mit ihrer Haltung und ihrem Verhalten den Dialog aufkündigt. Man muss dabei aber den Inhalt und die Haltung voneinander trennen. Mit einer Destruktivität umzugehen, das kriegen wir hin. Es gibt ja schon jetzt Rassismus auf der Straße, mit dem wir täglich zu tun haben. Was wir aber nicht hinbekommen, ist, wenn die Grundstruktur der Gewaltenteilung und demokratischen Spielregeln des Grundgesetzes missachtet wird. Deshalb geht‘s in Zukunft darum: Unter welchen Bedingungen können wir das demokratische System retten, ausbauen und sinnhaft weiterbilden. Was hilft dabei? Ich bin der Überzeugung: nur mehr Demokratie auf allen Ebenen.