Essen. Nach dem Interview-Eklat zum Champions-League-Finale meldet sich nun auch die Schalke-Legende Olaf Thon mit einem sehr überraschenden Vorschlag.

Man stelle sich das vor: Hendrik Wüst gewinnt die Landtagswahl. Unser Korrespondent geht nach den ersten Hochrechnungen zu ihm, gratuliert artig zum Erfolg, holt ihn brav bei seinen positiven Gefühlen ab, und zwar in etwa so: „Herzlichen Glückwunsch, was für ein großartiger Abend. Können Sie das selbst schon richtig fassen? Sie haben die Wahl klar gewonnen, das ist ja unfassbar.“ Und weil das noch nicht anbiedernd genug ist, fügt der Kollege hinzu: „Sie haben erst mal minutenlang ungläubig auf den Bildschirm mit den Hochrechnungen geschaut – weil das erst mal sacken muss?“

Wüst antwortet knapp, ja klar, dem sei nichts hinzuzufügen, und erzählt dann von seiner Familie, die im Studio sei. Nun hakt der Journalist vorsichtig-kritisch nach: „Der Sieg war ja nicht selbstverständlich angesichts der knappen Umfragewerte zuvor.“ Wüst blickt irritiert, wird leicht pampig: „Was ist schon selbstverständlich? Wir haben einen großen Wahlkampf absolviert, wir wussten, dass die SPD eine super Partei ist. Pffft, wir haben gewonnen – fertig!“ Der Korrespondent legt, mit leicht zittriger Stimme, nach: „War es überraschend für Sie, dass die CDU doch ganz schön in Bedrängnis geraten ist in den vergangenen Wochen?“

„Und jetzt stellen Sie mir zwei scheiß Fragen?“

Jetzt platzt Wüst der Kragen und er blökt diesen aus seiner Sicht total unverschämten, empathielosen Journalisten an, der offenbar überhaupt keinen Anstand hat und keinerlei Gefühl, wie man mit emotional aufgeladenen Siegern umgeht: „Sie hatten jetzt seit der Prognose um 18 Uhr eine Stunde Zeit, sich vernünftige Fragen zu überlegen, ehrlich, und jetzt stellen Sie mir zwei so scheiß Fragen.“ Wüst bricht das Interview ab, stampft davon und zeigt sich im Vorbeigehen weiter empört: „Ganz schlimm, ganz schlimm!“

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.

Nun, Hendrik Wüst würde so etwas natürlich nicht tun. Ich habe hier ein Interview des ZDF-Reporters Nils Kaben mit dem fünfmaligen Champions-League-Sieger Toni Kroos in die Welt der Politik übertragen – was per se ungerecht ist. Kroos ist kein Politiker; er muss seine Worte nicht in dem Maße abwägen. Und ja, die Situation unmittelbar nach einem solchen harten Fußballspiel ist eine besondere. Der Spieler ist vollgepumpt mit Adrenalin, noch immer aggressiv bis zu den glühenden Ohrläppchen. Kaben ist nicht der erste Journalist, dem seine kritischen Fragen, und seien sie im Kern noch so harmlos, um die Ohren fliegen, weil der Sportler damit nicht souverän umgehen kann.

Oder umgehen will?

Kann-Nicht wohnt in der Will-Nicht-Straße

Die Kunstfigur Bernd Stromberg hat mal gesagt: „Kann-Nicht wohnt in der Will-nicht-Straße.“ Da ist etwas dran. Kroos ist kein Anfänger. Einer wie er ist und wird geschult im Umgang mit Medien. Von einem wie ihm kann man erwarten, dass er auch in einer Stresssituation anständig und professionell bleibt, zumal – und das kann man gar nicht oft genug betonen – der Mann ja nicht gerade eine bittere Niederlage erlitten hatte, sondern sich im Gegenteil über einen phantastischen Triumph freuen durfte, einen Triumph, der angesichts des Spielverlaufs in der Tat alles andere als selbstverständlich war. War und ist es eine Majestätsbeleidigung, darauf zart hinzuweisen?

Nun könnte man das alles schnell abhaken. Doch so einfach ist das nicht. Kroos selbst findet auch jetzt noch nicht, Tage nach dem Spiel und dem verunglückten Interview, dass er irgendetwas falsch gemacht hat. Im Gegenteil. Er habe sich geärgert über Kaben und seine negativen Fragen, wo er doch positive – und zwar ausschließlich positive – erwartet hätte. Er bekommt dafür viel Zuspruch in den sozialen Medien, wo kritischer Journalismus in weiten Teilen der Nutzerschaft schon lange nicht mehr goutiert, eher als nervig denn als nützlich wahrgenommen wird.

Weder Demokratie noch Verständnis

Polemik an: Zu fragen, was das für ein merkwürdiges Demokratieverständnis offenbart, ginge schon deshalb an der Sache vorbei, weil die Frage bereits Verständnis für irgendetwas unterstellt. Polemik aus.

Ebenso erhellend wie erschütternd ist in dem Zusammenhang eine Kolumne von Schalke-Legende Olaf Thon zur Causa Kroos, erschienen an diesem Dienstag bei web.de. Ich zitiere Thon hier einmal wortwörtlich und warne Sie vor. Es handelt sich nicht um einen satirischen Beitrag! Thon verwendet nicht das Stilmittel der Ironie! Er meint das, was er schreibt, genau so! Hier also das Thon-Zitat:

„Normalerweise muss man als Journalist spätestens nach der zweiten Frage gemerkt haben, dass das Interview besser auf den Triumph abzielen sollte: Mensch, fünfter CL-Sieg! Er hätte ihn über den grünen Klee loben müssen. Meiner Meinung nach wäre es am besten gewesen, er hätte ihn nach dem Spiel in den Arm genommen, hätte ihn gedrückt und ihm gratuliert. Der ZDF-Journalist Nils Kaben wäre in die Geschichte eingegangen und Toni Kroos wäre zufrieden gewesen.“

Wenn Sie jetzt fragen, wem eigentlich mehr Tassen im Schrank fehlen, Toni Kroos oder Olaf Thon, dann liegen Sie mit dieser Frage meines Erachtens goldrichtig.

Olaf, das meinst Du doch nicht wirklich ...

Hallo? Das soll also die Aufgabe von Sportjournalisten sein? Siegreiche Multimillionäre, die von all ihrem Ruhm und Reichtum offenbar ganz dünnhäutig geworden sind, was, psychologisch betrachtet, ein interessantes Phänomen ist, vielleicht eines Tages Untersuchungsgegenstand für eine Dissertation oder Habilitation, wollen und sollen gedrückt und geherzt werden? Olaf, das meinst Du doch bitte nicht wirklich ...

Was aber fast noch ärgerlicher ist als die Einlassung des berühmten Gelsenkirchener Gefühls-Professors Thon ist das partielle Zurückrudern des ZDF-Sportchefs. Vielleicht, so meldete sich Thomas Fuhrmann nach dem Vorfall kleinlaut zu Wort, hätte Kollege Kaben „noch etwas bei den Emotionen bleiben und ein wenig später zum Kern des Spiels kommen sollen“. Immerhin findet Fuhrmann: „Grundsätzlich waren die Fragen berechtigt und kein Grund, das Interview abzubrechen.“

Ein Glück! Ohne den Zusatz hätte man Fuhrmann für ein uncouragiertes, feiges, illoyales Journalisten-Surrogat halten können – aber so ist es freilich in Ordnung. Schön, wenn man sich auf seine Vorgesetzten verlassen kann.

Auf bald.