Essen. Den Vernünftigen platzt der Kragen. Auch deshalb reagiert die Politik und will die Impfpflicht für alle. Nur die Stiko kommt nicht aus dem Quark.

Dass die Impfpflicht für alle kommt, ist so sicher wie das Amen in der Kirche – oder die inzwischen millionen- bis milliardenfach bewährten „mRNA“-Impfstoffe. Der Covid-19-Impfstoff von Biontech wird in der EU nun auch für Fünf- bis Elfjährige zugelassen, so sicher ist er. Die europäische Arzneimittelbehörde Ema hat endlich eine entsprechende Empfehlung abgegeben und folgt damit der nicht weniger strengen US-Arzneimittelbehörde FDA, die schon vor Wochen den Startschuss zu einer Impfkampagne für etwa 28 Millionen Kinder jenseits des Atlantiks gegeben hatte. Nur unsere deutsche Stiko, die Ständige Impfkommission, lässt sich noch Zeit, alles genauestens zu prüfen, voraussichtlich vier weitere Wochen lang. Das sind vier weitere Wochen Durchseuchung in Schulen und Kindergärten. Ungebremst.

Die Rettungsringe könnten Weichmacher enthalten

Ist das eigentlich „typisch deutsch“? Müssen wir, bevor wir den Ertrinkenden die in ausreichender Zahl vorhandenen Rettungsringe zuwerfen, wirklich erstmal untersuchen, ob diese nicht womöglich gefährliche Weichmacher enthalten – falls ein Ertrinkender mal aus Versehen in den Rettungsring beißt? Ja, ich gebe zu, der Vergleich hinkt, wie fast alle Vergleiche. Denn Covid-19 ist für gesunde Kinder nicht unmittelbar lebensbedrohlich. Infizierte Kinder müssen nur sehr selten ins Krankenhaus. Andererseits wissen wir nichts, absolut gar nichts über mögliche Spätfolgen einer Infektion. Was wir aber wissen: Das Virus ist alles andere als harmlos. Es ist geeignet, die Gesundheit Erwachsener kurz- und langfristig zu ruinieren. Ich möchte nicht, dass sich meine Kinder dieses Virus ungeimpft einfangen.

Zwei Missverständnisse gilt es freilich zu vermeiden: Erstens geht es nicht darum, Kinder als Mittel zu missbrauchen, um die Pandemie durch eine höhere Impfquote einzudämmen. Es geht um die Abwägung, was das höhere Risiko für jedes einzelne Kind darstellt: das Virus oder die Impfung. Die Selbstzwecklichkeit der Kinder und damit ihre unantastbare Würde stehen nicht zur Diskussion. Allein das Wohl der Kinder steht im Vordergrund; alles andere sind, wenn auch gewollte, Nebenwirkungen. Zweitens kann, darf und wird das oben schon angeschnittene Thema Impfpflicht nicht für Kinder gelten, auch wenn die Stiko eine Impfung letztendlich empfiehlt. Impfpflicht für alle meint: für alle Erwachsenen.

Atemberaubende Kehrtwende in Sachen Impfpflicht

Die allerdings ist voraussichtlich nicht mehr aufzuhalten, und das ist – nach gründlicher Abwägung aller Vor- und Nachteile – auch gut so. Die Politik hat hier in beispielloser Weise eine geradezu atemberaubende Kehrtwende an den Tag gelegt, wie man sie selten (und in dieser Geschwindigkeit wohl noch nie) miterlebt hat. Das leichtfertig abgegebene Versprechen, eine Impfpflicht für alle komme nicht in Frage, gilt nicht mehr. Denn die Rahmenbedingungen haben sich fundamental geändert. Die zu hohe Zahl der Ungeimpften in Kombination mit der hochansteckenden Delta-Variante bringt uns in eine nationale Notlage ungeahnten Ausmaßes. Diese ist zwar kaum mehr zu verhindern. Was es jetzt aber zu verhindern gilt, ist eine Wiederholung dieser Katastrophe im nächsten Jahr.

Ohne eine Impfquote deutlich jenseits der 90 Prozent, die ohne Impfpflicht völlig illusorisch wäre, kommen wir nicht in die angestrebte endemische Lage. Endemisch wäre die Lage dann, wenn Covid-19 als Krankheit zwar immer wieder einmal gehäuft auftritt, ähnlich wie eine Grippewelle, dann aber nicht so außer Kontrolle gerät, dass es unser Gesundheitssystem in die Knie zwingt. Immer größere Teile der geimpften Bevölkerung verstehen das, weshalb es eine deutliche Mehrheit für eine allgemeine Impfpflicht in der Gesamtbevölkerung gibt. Mehr noch: Sie wird von immer mehr Menschen geradezu wütend eingefordert.

Die große Mehrheit der Bevölkerung hat die Schnauze voll

Ja, die Wutbürger sind wieder da! Nur sind das diesmal nicht die bekloppten Aluhüte, die ihre kruden Ansichten bei Demonstrationen herausschreien. Jetzt sind es die anderen: die Klugen, Belesenen, Sozialen, eigentlich Besonnenen. Sie haben, auf Deutsch gesagt, die Schnauze voll. Ihnen platzt der Kragen. Die sonst so sonore Stimme der Vernunft wird schrill und schriller. Dem kann sich keine Politikerin und kein Politiker mehr entziehen, nicht einmal Joachim „Freedom-Day“ Stamp, unser Vize-Ministerpräsident von der FDP.

Ehrlich gesagt, traute ich meinen Augen nicht, als ich vor einigen Tagen las, dass ausgerechnet Stamp eine Impfpflicht für alle nicht mehr ausschließen will, dass ausgerechnet einer der prominenten Vorzeige-Beton-Liberalen verstanden hatte, dass eine Impfpflicht Freiheiten nicht beschränkt, sondern erst ermöglicht. „Wir können nicht dauerhaft das Recht auf Bildung, die Berufsfreiheit und die Bewegungsfreiheit beschränken, sonst ruinieren wir unseren Wohlstand und unseren freiheitlichen Lebensstil“, begründete er seinen radikalen Sinneswandel. Eine Impfpflicht sei zwar eine massiver Grundrechtseingriff, der aber notwendig werden könne, „wenn wir anders nicht aus der Spirale anderer Grundrechtsbeschränkungen kommen“. Wunderbare Sätze, wie in Stein gemeißelt!

Da hat jemand sehr konsequent seine Tassen wieder in den Schrank geräumt. Hut ab!

Wer spaltet hier die Gesellschaft?

„Wie tief wollen wir die Gesellschaft noch spalten?“, las ich neulich in dem Kommentar eines geschätzten Kollegen, der sich gegen eine allgemeine Impfpflicht aussprach. Gerne antworte ich heute mit der Gegenfrage, an wen sich die Ausgangsfrage eigentlich richtet? Wenn sie sich an die Geimpften richtet, die eine Impfpflicht einfordern, handelt es sich um die klassische Verwechslung von Ursache und Wirkung. Die Spaltung der Gesellschaft ist längst Realität. Der Staat ist nun gefordert, demokratisch legitimiert durch entsprechende Mehrheiten, die Dinge in die Hand zu nehmen und zusammenzuführen. Genau das ist es, was Politikerinnen und Politiker anderer Parteien jetzt durch ihre öffentlichen Äußerungen vorbereiten. Sehen wir darin ruhig einen Ausdruck der „wehrhaften Demokratie“.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.

Und nein, „wehrhaft“ bedeutet nicht, dass demnächst die Polizei vorfährt, den Impfunwilligen mitnimmt und zwangsimpfen lässt. Wer „Impfpflicht“ mit „Impfzwang“ verwechselt, tut dies meist in der bösartigen Absicht, die Impfpflicht zu diskreditieren. Es ist nun die Stunde der Juristen, die eine Impfpflicht in verfassungskonformer Weise ausbuchstabieren müssen. Zu klären ist, wer eine Impfpflicht wie überprüft und wie Verstöße zu sanktionieren sind. Sie sollte kommen, so lange sie politisch durchsetzbar ist, bevor also die vierte Welle im Frühjahr/Sommer zurückgeht und der gesellschaftliche Laissez-faire aufgrund eines neuen trügerischen Sicherheitsgefühls zurückkehrt. Denn der nächste Winter und mit ihm die fünfte Welle kommen bestimmt.

Warten auf einen kompetenten Gesundheitsminister

Übrigens: Wer aufs Volk hört, zumindest auf die Mehrheit im Volk, was zuweilen keine schlechte Idee ist (siehe oben), der sollte bei der Zusammensetzung eines Kabinetts nicht nur auf Diversität, auf Regionalproporz und Geschlechterparität achten. Nichts gegen eine 50-Prozent-Frauen-Quote! Aber noch cooler – und etwas ganz Neues und Passendes für eine „Fortschrittskoalition“ – wäre eine 100-Prozent-Fachleute-Quote. Stellen Sie sich das vor: Menschen an der Spitze von Ministerien, die vom Fach sind, die Ahnung haben. Es wäre die Ent-Andi-Scheuerisierung der deutschen Politik.

Schon klar, wer dann Bundesgesundheitsminister werden müsste, oder?!

Auf bald.